Stuttgart - Für ein paar Tage ist Peaches zurück in Stuttgart, im Schauspielhaus werden „Die sieben Todsünden“ an diesem Samstag wiederaufgenommen. Neben allen drei Sparten der Staatstheater spielt die kanadische Electro-Punk-Performerin darin die Hauptrolle; für vier Vorstellungen lässt sie, flankiert vom Tänzer Louis Stiens und der Schauspielerin Josephine Köhler, das Brecht-Weill-Ballett mit Gesang in eine Punk-Show münden, die auf die alte Abrechnung mit dem Kapitalismus eine neue folgen lässt. Patriarchale Strukturen hat Peaches im Fokus, wenn sie tödliche in himmlische Sünden verwandelt, wenn sie für ihr Testimonial „Seven Heavenly Sins“ im Tanz mit riesigen Stoff-Vaginas die Schamhaarzotteln und multiplen Brüste an ihrem Dress in Aufruhr bringt.
Erregt ist auch das Stuttgarter Publikum. Die wenigen Shows sind ausverkauft; Pläne für weitere Vorstellungen sind Peaches nicht bekannt. „Aber es war schon dieses Mal die Rede davon, im Opernhaus zu spielen. Ich hätte es sehr interessant gefunden, wenn das geklappt hätte. Das Umfeld dort wäre ein noch größeres Statement.“ Doch der Kontrast zwischen Staatstheater-Normalität und der Haltung von Peaches, die auf alle Konventionen pfeift und mit explizitem Vokabular Sexualität zum Schlachtfeld der Unangepasstheit macht, ist auch so schon maximal.
Im Herzen des Patriarchats
Schnell ist man im Gespräch mit Peaches, zu dem sich auch der Choreograf und Tänzer Louis Stiens gesellt, bei wesentlichen Themen angelangt, bei Ungleichheit, bei Ausgrenzung, bei der Infragestellung von Strukturen. Setzt eine wie Peaches, die in Clubs groß geworden ist, den Auftritt auf einer Staatstheaterbühne mit einem kleinen Sieg über das Establishment gleich? „Nein“, sagt die Sängerin, „für mich ist das nur ein weiterer Ort, an dem ich auftrete.“ Auch auf die Gefahr hin, wie ein trojanisches Pferd zu wirken, setzt sie hinzu: „Und mal ehrlich: In solche Institutionen fließt wahnsinnig viel Geld, sie genießen große Aufmerksamkeit und dabei werden an vielen dieser Theater nur die schlimmsten patriarchalen Ideen weitergedacht. Die meisten Autoren und Komponisten, die hier gespielt werden, sind männlich. Ja, ich bin hier an einem Staatstheater, aber das ändert meine Arbeit nicht.“
Selbst für Louis Stiens, der mit dem Stuttgarter Ballett volle Vorstellungen gewohnt ist, war der große Erfolg der „Sieben Todsünden“ nicht vorhersehbar. „Bei der Erarbeitung des Abends sind wir durch so viele Phasen gegangen, dass es irgendwann schwierig war, die Dimension des Ganzen zu verstehen. Erst bei der Premiere hatten wir alle das tolle Gefühl, dass wir an einem Strang und in die richtige Richtung ziehen. Die begeisterten Reaktionen“ haben das dann betätigt.“
Vom Publikum zu Tränen gerührt
Mit diesem Einverständnis des Publikums hat Peaches nicht gerechnet: „Ich hätte erwartet, dass dieser Abend sehr viel mehr polarisiert, dass Leute zum Beispiel während der Show den Saal verlassen.“ Auf einen möglichen Skandaleffekt reduziert will Peaches ihre Performance aber auf keinen Fall sehen. „Die Leute gehen doch auch nicht nur in die Oper, weil sie gebildet und kulturell interessiert wirken wollen. Verblüffend für mich war, dass viel ältere Zuschauerinnen, also Frauen um die sechzig, siebzig Jahre, sich ermutigt fühlten und nach der Vorstellung auf mich zukamen, um über die Frauenbewegung, über Freiheit, über Verständnis zu sprechen. Ich habe unglaubliche Geschichten gehört, von denen mich manche zu Tränen rührten. Diese Frauen sind in einer Zeit aufgewachsen, die viel erkämpft hat. Unsere Welt heute ist im Vergleich dazu wahrscheinlich sehr viel konservativer.“
Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Peaches mit dem Song „Fuck the Pain away“ rebellierte, fast neunzig Jahre, seit „Die sieben Todsünden“ einen entfesselten Kapitalismus brandmarkten. Aktuell bleiben beide Themen, da hat sich an den Verhältnissen nicht viel geändert. Peaches sieht weniger den Stillstand, sondern eine verwirrende Konkurrenz der Meinungen als Ursache. „Ich finde, dass sich die Dinge geradezu explosiv in alle Richtungen entwickeln. Einerseits gibt es zum Beispiel mehr Verständnis für Genderdiversität, andererseits mehr Gewalt gegen Transsexuelle als jemals zuvor. Oder der Klimawandel, da ist jemand so leidenschaftlich Engagiertes wie Greta Thunberg und auf der anderen Seite stehen Politiker, die ihr den Tod wünschen oder wie Trump den Klimawandel als Lüge bezeichnen. Oder der Rechtsextremismus in Deutschland, dem viele Linke die Stirn bieten. Das macht die aktuelle Lage komplex und schwierig.“
Nie mehr Opferrolle
Als die „Die sieben Todsünden“ 1933 in Paris Premiere feierten, gehörte Deutschland den Nazis. Die aktuelle Entwicklung verfolgt Peaches, die seit 2000 in Berlin lebt, aufmerksam. Als Kind einer jüdischen Familie, erzählt die 1966 in Kanada geborene Künstlerin, sei sie auf dem Heimweg von Jungs der benachbarten katholischen Schule mit Steinen beworfen und als „dirty jew“ beschimpft worden. In der Opferrolle kann man sich die radikale Grenzgängerin heute kaum noch vorstellen. Sie ist keine der Frauen, die in Gefahr läuft, in einer Kultur, deren zentrale Perspektive die männliche ist, zur Projektionsfläche werden.
„Ich habe Theater studiert, ich wollte Regisseurin werden“, erklärt Peaches ihre Vertrautheit mit der Bühne. „Aber ich habe schnell erkannt, dass ich in dieser Umgebung, wenn ich die Institution und ihre Methoden verstehen will, spätestens mit dreißig einen Herzinfarkt bekommen hätte. So kam ich zur Musik, hier kann ich meine eigene Autorin, Regisseurin, Performerin sein, für meine eigenen Ideen stehen. Es ist ein Privileg, immer im Mittelpunkt des eigenen Tuns zu sein, keine Kompromisse machen zu müssen.“
Auch Divas arbeiten hart
Für Louis Stiens, der erst in einem Boxring, dann an der Seite von Peaches sich durch „Die sieben Todsünden“ schlägt und tanzt, haben diese Begegnungen ein besonderes Gewicht. „Am Anfang war ich eingeschüchtert, weil ich die Musik von Peaches und ihre Arbeit sehr bewundere“, sagt der Tänzer. „Aber das Theater, und das schätze ich an diesem Ort, bringt alle Akteure auf dieselbe Ebene, um etwas geschehen zu lassen – anders funktioniert das nicht. In dieser Welt kann man zwar eine Diva sein, aber man muss genauso hart arbeiten wie die anderen.“
Ein bisschen harte Probenarbeit hat Peaches noch vor sich; und auf keinen Fall will sie dabei als Diva auftreten, im Gegenteil. „Mir ist es wichtig, mich mit den Menschen, die hier arbeiten, verbunden zu fühlen. Es geht mir auch darum, mit den Hierarchien zu brechen, die Teil des patriarchalen Systems sind“, sagt Peaches und freut sich auf den Dialog mit den Musikern, auf den kontrollierten Gesang Kurt Weills. „Ich mag es, mit dem Orchester zu kommunizieren. Vor allem im Proberaum, wo das Volumen voller ist, macht es einen irren Spaß.“ Spüren wird man ihn bestimmt auch bei der Wiederaufnahme am Samstag im Schauspielhaus.
Aufführungen im Schauspielhaus Stuttgart am 7., 17., 20. und 22. März. Am 21 März