Putin und seine Vorbilder Das Imperium kehrt zurück
Wladimir Putin gebärdet sich in der Ukraine wie ein aggressiver Neoimperialist. Auf der Weltbühne der Politik ist er damit nicht alleine. Was kennzeichnet den modernen Imperialismus?
Wladimir Putin gebärdet sich in der Ukraine wie ein aggressiver Neoimperialist. Auf der Weltbühne der Politik ist er damit nicht alleine. Was kennzeichnet den modernen Imperialismus?
Carl von Clausewitz, der berühmteste Theoretiker des Krieges, hielt Schlachtfelder für ein „Gebiet der Ungewissheit“. Er sagte: „Drei Viertel derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit.“ Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich der Nebel rasch gelichtet. Wladimir Putin ließ nie im Ungewissen, was ihn antreibt. Bundeskanzler Olaf Scholz fasst es wie folgt zusammen: „Der Imperialismus ist zurück in Europa.“ So erklärt Scholz, warum er den Kriegsbeginn für eine „Zeitenwende“ hält.
Mit Putins völkerrechtswidrigem Krieg ist „Imperialismus“ als politischer Kampfbegriff wieder in Mode gekommen. „Imperialist“ war einst der schlimmste Fluch im Wortschatz der Linken. Jetzt erhebt sich der Imperialist wie ein Zombie in Gestalt von Putin wieder. Schon vor der Detonation erster Bomben und Raketen in der Ukraine hatte der Moskauer Ökonom Wladislaw Inosemzew vor dem „Wiederaufleben des russischen Imperialismus“ gewarnt. „Russland fällt es schwer, sich vom Imperium zu verabschieden“, schreibt Jörg Baberowski, der Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität lehrt. „Putin führt einen Krieg, der aller Welt demonstriert, dass die totgeglaubten Mächte wiederauferstanden sind und sich holen, was sie beanspruchen.“
Auch der Tübinger Historiker Benno Ennker sieht in der Ukraine den „fortdauernden Imperialismus Russlands“ am Werk. „Russland bezog in Geschichte und Gegenwart seine Identität aus dem Imperium“, urteilt er. Rüdiger von Fritsch, bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau, nennt Putins Kriegstreiberei einen „imperialen Reflex“.
Was löst solche Reflexe aus? Hält Putin sich für einen Wiedergänger Stalins oder gar Peter des Großen? Sie haben das Imperium geformt, das er wiederzuerwecken versucht. Das russische Imperium ist älter als der Imperialismus, mit dem Putins Politik nun etikettiert wird. Imperialismus ist eine denunziatorische Phrase, die Lenin, einer der Urahnen Putins als Kremlchef, erst populär gemacht hat. Er agitierte gegen den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ – für seinen Vordenker Karl Marx war diese Floskel noch ein Fremdwort.
Zur Metropole eines Imperiums wurde der Kreml Jahrhunderte zuvor: mit dem Vordringen des ersten als „groß“ verherrlichten Zaren an die Ostsee, der kolonialen Expansion bis in den Fernen Osten, dem Aufstieg zur dominanten eurasischen Macht. Als der Antiimperialismus im Kreml herrschende Ideologie war, ist das imperiale Denken dort neu erwacht. Wie das Zarenreich im Ersten Weltkrieg implodierte jedoch auch das Sowjetimperium. Aber die imperiale Idee hat in Russland überdauert. „Die Mehrheit der Bevölkerung lebt mental noch in der Vergangenheit“, sagt der russische Schriftsteller Michail Schischkin. Die Staatsmacht zementiere seit Generationen ein Weltbild, in dem Russland als Imperium fortbestehe.
Diese imperiale Nostalgie hat einen Namen: „Russki Mir“. So heißt der Traum von einer „russischen Welt“ – wobei das Wort „Mir“ ironischerweise sowohl Welt als auch Frieden bedeutet. Die Ideologie von einer Welt, die sich um Russland dreht, ist dem 19. Jahrhundert entlehnt. Sie beruht auf einer sakralen Überhöhung slawischer Identität, die sich vom europäischen Denken abzugrenzen versuchte. Inzwischen dient das Gerede von der „Russki Mir“ zur Rechtfertigung russischer Dominanz im postsowjetischen Raum. Für den belarussischen Philosophen Ihar Babkou dient die Parole von der „Russki Mir“ zur Bemäntelung eines „brutalen und aggressiven Neoimperialismus“.
Putin habe den Traum von einer „Russki Mir“ geradezu „als Waffe instrumentalisiert“, so Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien in Oxford und 2017 in Stuttgart mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet. 2007 gründete Putin eine Stiftung mit dem Namen „Russki Mir“. Er rechtfertigte mit dieser Phrase ausdrücklich die Annexion der Krim im Jahr 2014. Es gehe ihm darum, „die Einheit des historischen Russlands, die ,Russki Mir‘, wiederherzustellen“, sagte der Kremlchef damals. „Die Ideologie einer ,russischen Welt‘ war immer eng mit dem russischen imperialen Projekt verbunden“, schreibt Ash. „Putin versucht, Teile des russischen Imperiums mit brutaler Gewalt und Terror zurückzuerobern.“
Imperiales Denken ist freilich nicht nur in Russland zu Hause. Imperien gibt es seit Anbeginn der Geschichte. Schon das Akkadische Reich im dritten Jahrtausend vor der antiken Zeitenwende gilt als solches. Im Römischen Reich ist der Begriff entstanden. Das Habsburgerreich des Kaisers Karl V., in dem die Sonne nicht unterging, war eine frühe globale Variante, das Britische Empire als einziges Imperium auf allen Kontinenten präsent. China, von 221 vor Christus bis 1911 ein Kaiserreich, inzwischen eine kommunistisch kostümierte kapitalistische Großmacht, gilt als langlebigstes aller Imperien. Und die USA als vermeintlich letztes.
Die Geschichte moderner Staaten könne „ohne die Berücksichtigung mannigfacher imperialer Kontexte gar nicht sinnvoll geschrieben werden“, erklärt der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel, den Angela Merkel zu ihrem 60. Geburtstag als Festredner eingeladen hatte. „Keine Geschichte kann die Imperien übersehen.“ Doch was unterscheidet Imperien von gewöhnlichen Staaten? „Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten haltmachen, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden“, so der Politologe Herfried Münkler in seinem Buch über „Imperien“, mit dem er „die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ erklären möchte. Moderne Staaten sind häufig Zerfallsprodukte von Imperien, manchmal deren Erben oder Satelliten. „Das Imperium ist der weltgeschichtliche Normalfall“, schreibt Osterhammel, „der Nationalstaat die spätneuzeitliche Ausnahme.“ Im Unterschied zu normalen Staaten, so Münkler, hätten Imperien „keine Nachbarn, die sie als Gleiche anerkennen“ – da lässt Putin grüßen. Imperiale Strukturen überlagerten die Ordnung der Staaten. Imperien scheren sich nicht um deren Souveränität. Ihr Einfluss schwankt zwischen Dominanz und Hegemonie, Vorherrschaft und Unterdrückung.
Auf dieses Verhältnis von Über- und Unterordnung hebt auch der „Imperialismus“ ab. Als politischer Schmähbegriff entstand er in einer Phase, die der britische Historiker Eric Hobsbawm „Age of Empire“ nannte – das „imperiale Zeitalter“. Es hatte seine Blütezeit vor dem Ersten Weltkrieg und ging in den Trümmern unter, die er hinterlassen hat. Mit dem „Imperialismus“ haben Leute wie Lenin den expansiven Kapitalismus westlicher Industriestaaten bezeichnet, andere die Kolonialmächte, wieder andere die Auswüchse von extremem Nationalismus, politischem Größenwahn oder jegliche Art von wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Es sei „unklar, welcher Sachverhalt denunziert wird“, hält der deutsch-israelische Historiker Dan Diner fest. Auf ihre Weise haben auch historische Großreiche wie das des Mongolen Dschingis Khan, das Römische Imperium oder Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht eine Art von Imperialismus betrieben. Eine verengte Sichtweise, so Jürgen Osterhammel, werde „weder dem nationalsozialistischen Plünderungs- und Vernichtungsimperialismus noch gewissen Aspekten der US-amerikanischen Globalhegemonie der Gegenwart gerecht“.
Neoimperialismus ist jedenfalls nicht exklusiv auf Putins Aktionsradius begrenzt. Als Imperium gebärdet sich auch das Reich des Herrn Xi, wovon sowohl das Landgrabbing in Afrika, die durch milliardenschwere Finanzhilfen zementierte Abhängigkeit dortiger Regierungen, der militärische Expansionismus im Südchinesischen Meer wie auch der Ausbau einer neuen Seidenstraße hindeuten. Und wie anders als imperialistisch war die US-Intervention im Irak zu verstehen, für die eine Lüge als Vorwand genügt hatte?
Münkler spricht von der „Wiederkehr des Imperiums im postimperialen Zeitalter“. Die Krise der Globalisierung dürfte diesem Trend weiteren Vorschub leisten. Imperiale Politik ist auf Einflusssphären ausgerichtet und schert sich wenig um gemeinsame globale Interessen. Neoimperialismus wird nicht zwangsläufig mittels „militärischer Spezialoperationen“ betrieben, wahlweise auch durch Finanztransaktionen, ungleiche Handelsbeziehungen, im Namen von Freihandel, Demokratie und Menschenrechten.
Ein „Gespenst des Imperialen“ durchgeistere die Weltpolitik, so der Historiker Jörn Leonhard. Damit ist nicht allein der von Stalin faszinierte und im Stile eines modernen Zaren agierende Putin gemeint. Dessen zweifelhafte Rolle in der Geschichte des Imperialismus hat Timothy Garton Ash mit britischem Sarkasmus umschrieben: Er frage sich, ob Putin nicht ein „Agent des amerikanischen Imperialismus ist“, schrieb Ash. Denn kein Amerikaner habe dem, was Putin die „russische Welt“ nennt, auch nur halb so viel Schaden zugefügt wie jener selbst.
Eine Welt, die wie ein Puzzle imperialer Einflusszonen sortiert ist, wird sich schwertun mit der Bewältigung von Menschheitsproblemen, die den kompletten Globus betreffen. Sie lassen sich nur durch Kooperation und allgemein verbindliche Regeln überwinden. Die Europäische Union ist aufgrund ihrer Grundidee und ihrer Verfasstheit eigentlich ein Gegenmodell imperialer Politik, als solches aber wenig werbewirksam – auch weil sie mangels sicherheitspolitischer Autonomie imperialen Ansprüchen in ihrer Nachbarschaft wenig entgegenzusetzen hat.
Das moderne Völkerrecht fußt auf der formellen Gleichheit der Staaten – was über reale Ungleichheiten nicht hinwegtäuschen kann. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen repräsentiert diese deklamatorische Gleichheit, während die Politik ihres Sicherheitsrats die Ungleichheit vor Augen führt. Bei den ständigen Mitgliedern dieses Gremiums handelt es sich nicht zufällig um noch existente oder gewesene Imperien.