Bereits kurz nach der Niederschlagung des Putsches kündigt Präsident Erdogan Säuberungen im Militär an. Er bezeichnete den Putschversuch als „Segen Gottes“.

Ankara - Kampfflugzeuge donnern über die türkische Hauptstadt Ankara hinweg, Panzer rasseln durch die Straßen, Militärfahrzeuge blockieren die Bosporusbrücken in Istanbul, Soldaten und Polizisten liefern sich Feuergefechte auf dem Taksim-Platz, im Parlament explodiert eine Bombe: Die Türkei drohte am späten Freitagabend ins Chaos abzustürzen. Am Samstag schien der Putschversuch niedergeschlagen zu sein, Staatschef Recep Tayyip Erdogan und die Regierung hatten offenbar die Oberhand gewonnen.

 

Erdogan gab sich siegessicher: „Die Türkei wird nicht vom Militär regiert“, unterstrich der Präsident und kündigte „Säuberungen“ in den Streitkräften an. Ministerpräsident Binali Yildirim sagte, die Lage sei „völlig unter Kontrolle“. Der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan sagte am Samstagmittag nach Angaben aus Regierungskreisen, die Operationen gegen die Putschisten seien weitgehend abgeschlossen.

Die blutige Bilanz, nach offiziellen Angaben: mindestens 265 Tote, darunter 161 Zivilisten und Angehörige regierungstreuer Sicherheitskräfte sowie 104 Putschisten. Über 1100 Menschen seien verletzt worden, berichtete Ministerpräsident Yildirim. Fast 2900 mutmaßlich an dem Umsturzversuch beteiligte Soldaten wurden festgenommen, fünf Generäle und 29 Oberste abgesetzt. Aber die Situation blieb zunächst unübersichtlich. Auch am Samstag fielen in Ankara immer wieder Schüsse.

Unklar war, wer das Militärhauptquartier kontrollierte: Putschisten oder regierungstreue Truppen? In dem Gebäude hatte sich in der Nacht eine unbekannte Zahl von Putschisten verschanzt und Geiseln genommen. Mehrere Stunden lang hielten die Aufständischen auch den Generalstabschef Hulusi Akar gefangen, bis er von regierungstreuen Militärs befreit werden konnte. Im Marinestützpunkt Gölcük gelang es Putschisten, eine Fregatte zu kapern und den türkischen Flottenchef als Geisel zu nehmen. Präsident Erdogan rief am Samstagmittag per SMS erneut, wie schon in der Nacht zuvor über das Fernsehen, die Bevölkerung auf, sich auf Straßen und Plätzen zu versammeln.

Erdogan: Putsch ein „Segen Gottes“

Der Präsident bezeichnete den Putschversuch als „Segen Gottes“. Er werde „als Anlass dienen, unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, zu säubern“. Erdogan vermutet seinen Erzfeind Fetullah Gülen, der in den USA im Exil lebt, als Drahtzieher des Umsturzversuchs. Der islamische Reform-Prediger war ein enger Verbündeter Erdogans, bis sich beide Männer 2013 überwarfen. Erdogan warf Gülen vor, er habe die Massenproteste vom Sommer 2013 inszeniert und die wenige Monate später hochgekommenen Korruptionsvorwürfe lanciert, um ihn zu stürzen. Tausende mutmaßliche Gülen-Anhänger wurden seit Ende 2013 aus dem Staatsdienst entfernt.

Gülen dementierte noch am Freitagabend umgehend jede Beteiligung und verurteilte den Putschversuch: „Als jemand, der in den vergangenen fünf Jahrzehnten unter mehreren Coups zu leiden hatte, ist es für mich besonders verletzend, wenn ich nun angeblicher Verbindungen zu den Putschisten beschuldigt werde“, hieß es in einer Erklärung Gülens. „Ich bestreite diese Anschuldigungen kategorisch und verurteile den Putschversuch auf das Schärfste“, so Gülen. Auch wenn sich der Prediger distanziert: Seine Anhänger müssen sich nun warm anziehen.

Erdogan kündigte ein hartes Vorgehen gegen die Drahtzieher des versuchten Staatsstreichs an: Sie müssten „einen hohen Preis für ihren Hochverrat“ zahlen, so der Präsident. Erdogan war offenbar persönlich ein Ziel der Putschisten. Mehrere von den Umstürzlern kontrollierte Kampfhubschrauber nahmen in der Nacht zum Samstag ein Hotel in der Touristenmetropole Marmaris unter Beschuss, wo Erdogan übernachten sollte. Polizisten und Soldaten lieferten sich in dem Hotel Feuergefechte. Zum Zeitpunkt des Angriffs war Erdogan allerdings nicht mehr in dem Hotel. Er befand sich bereits auf dem Flug nach Istanbul, wo sich viele seiner Anhänger am Flughafen versammelten.

Aufruf zu Demonstrationen

Erdogan hatte die Bevölkerung per Telefon über den TV-Sender CNN Türk aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen und sich auf Plätzen zu versammeln, um den Putschisten Einhalt zu gebieten: „Sollen sie mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen.“ Ein lebensgefährlicher Appell: Unter den getöteten Zivilisten sind Dutzende Demonstranten, die von putschenden Soldaten niedergeschossen wurden.

In der Nacht hatten sich die Ereignisse überschlagen. Ein Kampfjet warf in der Nähe des Präsidentenpalastes in Ankara eine Bombe ab. Das Gebäude wurde zwar nicht getroffen, aber mindestens fünf Menschen kamen ums Leben. Die Putschisten flogen auch Luftangriffe auf das Parlamentsgebäude im Regierungsviertel, das erheblich beschädigt wurde. Dabei sei das Büro des Ministerpräsidenten weitgehend zerstört worden, hieß es in Meldungen. Kampfhubschrauber griffen auch das Gebäude des Staatsfernsehen TRT in der Hauptstadt an.

Ministerpräsident Yildirim bestätigte, dass es auf den Luftwaffenstützpunkten von Ankara und Balikesir eine „Rebellion“ gebe. Die Putschisten flögen mit Kampfjets und Hubschraubern vereinzelte Luftangriffe auf Ziele in Ankara und Istanbul. „Sie richten großen Schaden an“, sagte Yildirim. Er habe den regierungstreuen Truppen Anweisung gegeben, die Flugzeuge der Aufständischen abzuschießen. In Istanbul lieferten sich Polizisten und putschende Soldaten Feuergefechte auf dem Taksim-Platz. Auch an den Zufahrten der beiden Bosporusbrücken kam es zu Schießereien. Aufständische hatten die Brücken am späten Freitagabend blockiert. Noch im Laufe der Nacht kapitulieren sie, Demonstranten klettern auf die Panzer der Putschisten.

Regierungen verurteilen den Putschversuch

Das Kalkül der Aufständischen, sie würden Unterstützung von Erdogan-Kritikern bekommen, war nicht aufgegangen. Eine kuriose Fußnote: Nachdem der Putsch gescheitert war, landete ein türkischer Militärhubschrauber mit sieben Soldaten und einem Zivilisten in Nordgriechenland. Die acht Insassen hätten um politisches Asyl gebeten, erklärte das griechische Verteidigungsministerium. Sie wurden wegen illegalen Grenzübertritts zunächst festgenommen. Die Türkei will ihre Auslieferung beantragen.

Die EU, die Uno, die USA, Deutschland und zahlreiche andere Staaten verurteilten den Putschversuch und forderten, die demokratische Ordnung und Verfassung in der Türkei zu respektieren. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg lobte den Widerstand der türkischen Bevölkerung und Politik gegen den versuchten Staatsstreich und die „starke Unterstützung für die Demokratie und die demokratisch gewählte Regierung“. Auch die türkischen Oppositionsparteien verurteilten den Putschversuch einhellig. Ministerpräsident Yildirim berief für den Samstagnachmittag eine Sondersitzung des Parlaments ein.