Wegen seines politischen Engagements an der Uni sollte der heutige Ministerpräsident Winfried Kretschmann einst nicht Lehrer werden dürfen. Seine nun offengelegte Akte zeigt, was ihm vorgeworfen wurde und wie er sich wehrte.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Drinnen im Stuttgarter Kunstgebäude, dem provisorischen Quartier des Landtags, verliefen die Fronten vorige Woche wie immer. Die Opposition kritisierte den Haushalt und den fehlenden Sparwillen der Regierung, der Ministerpräsident verteidigte das Zahlenwerk; gleichzeitig zu konsolidieren und zu investieren sei der richtige Kurs.

 

Draußen auf dem Schlossplatz, in Sichtweite des Eingangs zum Parlament, gab es zur gleichen Zeit ebenfalls Kritik an Winfried Kretschmann – aber von ungewohnter Seite. Anlässlich des internationalen Tags der Menschenrechte hatte die Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“ zur Kundgebung geladen. Gemeinsam mit Gewerkschaftsvertretern protestierten einst von Berufsverboten Betroffene, weil die grün-rote Koalition die alte Praxis nicht ernsthaft aufarbeite. In anderen Bundesländern wie Bremen und Niedersachsen werde über eine Rehabilitierung diskutiert, in Baden-Württemberg geschehe nichts.

Keine Dokumente mehr? Von wegen!

Besonders enttäuscht zeigten sich die Redner vom grünen Regierungschef. „Unheimlich gefreut“ habe er sich über den Machtwechsel im Land, bekannte der Sprecher der Initiative, Klaus Lipps. Aber das sei vorbei, wegen Kretschmann: „Er will die eigene Vergangenheit nicht mehr wahrhaben.“ Ein Spitzenpolitiker, dem einst selbst ein Berufsverbot drohte, müsse für das Thema doch besonders sensibilisiert sein, hatten Lipps und seine Mitstreiter zunächst gedacht. Dass er in den siebziger Jahren doch noch Referendar und Lehrer werden konnte, verdanke er schließlich auch der Solidarität seiner Unterstützer von damals; denen sei er „einiges schuldig“.

Doch Kretschmann wolle von dieser Verpflichtung nichts wissen, bedauerte Lipps: Außer dem Satz, er wolle „auch keine Kommunisten im Schuldienst“, höre man von ihm wenig. Wiederholt habe die Initiative ihn angeschrieben, aber nur einmal eine ausweichende Antwort bekommen. Es gebe ja „keine Dokumente mehr“, laute die Ausrede dafür, dass eine Überprüfung von Einzelfällen angeblich nicht mehr möglich sei. „Wir haben Dokumente“, empörte sich Lipps unter dem Beifall der etwa fünfzig meist älteren Demonstranten, die in der Kälte bibberten: „Vorladungen, Widersprüche, Klagen, Urteile.“

Fünf Regalmeter Akten zu Einzelfällen

Wenige Wochen zuvor hatte auch der Ministerpräsident erfahren, dass es sehr wohl Dokumente gibt – auch über seinen Fall. Da bekam er erstmals die 1978 geschlossene Akte „Kretschmann, Winfried, Echterdingen“ auf dem Tisch, die seit Jahrzehnten im Landesarchiv liegt. Anlass waren Recherchen der Stuttgarter Zeitung zum Radikalenerlass. Man verwahre „knapp fünf Regalmeter Einzelfallakten“, die sich „mit der Verfassungstreue von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes und deren politischer Betätigung“ befassten, hatte ein Archivsprecher mitgeteilt. Verzeichnet seien etwa 2000 Namen, darunter auch der des heutigen Regierungschefs; während zu den meisten Fällen nur wenige Blätter vorlägen, sei dessen Akte etwas dicker, aber keineswegs die umfänglichste. Einsicht könne das Archiv vor Ablauf der üblichen Sperrfristen – bei personenbezogenen Unterlagen zehn Jahre nach dem Tod – nur gewähren, wenn Kretschmann zustimme. Der Premier ließ die Unterlagen sichten und gab der StZ dann sein Plazet; es handele sich schließlich um ein „Zeugnis der Zeitgeschichte“.

Die Akte Kretschmann, Winfried – das sind gut fünfzig Seiten, ganz überwiegend mit Schreibmaschine getippt, nur vereinzelt von Hand geschrieben oder mit Zeichnungen versehen. Sie umfasst einerseits amtliche Schriftstücke vor allem des Landesamtes für Verfassungsschutz, des Oberschulamts Stuttgart und des Landesinnenministeriums, andererseits vom Verfassungsschutz gesammelte Flugblätter, Einladungen und Plakate der Unterstützer von Kretschmann sowie Infoblätter von Studentenvertretern der Universität Hohenheim, oft erkennbar per Durchschlag vervielfältigt. An die dortige Hochschule war der gebürtige Spaichinger (Jahrgang 1948) im Jahr 1970 nach der Grundschulzeit in Zwiefalten, Internatsjahren in Riedlingen und dem Abitur in Sigmaringen gekommen, um Biologie und Chemie zu studieren. Lehrer wollte er werden, wie schon sein Vater.

Zwei Kandidaturen werden zum Problem

Die Probleme begannen nach dem ersten Staatsexamen 1975 – da setzt auch die Akte ein. Einen Tag vor der geplanten Vereidigung teilte das Oberschulamt dem damals 27-Jährigen überraschend mit, dass er nicht zum Referendariat zugelassen werden könne. Grund: die Überprüfung gemäß dem „Radikalenerlass“ sei noch nicht abgeschlossen. Damals erfuhr Kretschmann erstmals, was die Zweifel an seiner Verfassungstreue begründete: Zwei Kandidaturen zum Studentenkonvent, 1972 für die „Kommunistische Studentengruppe / Marxisten-Leninisten“ und 1973 auf der Plattform des „Sozialistischen Zentrums“ und der „Kommunistischen Hochschulgruppe“ (KHG), hatte der Verfassungsschutz dem Oberschulamt gemeldet; beigefügt waren Auszüge mit den Wahlergebnissen des Asta-Vorsitzenden.

Seine Phase in den „linksradikalen K-Gruppen“, die sich gen Peking orientierten, nennt Kretschmann heute einen „fundamentalen politischen Irrtum“. Schon damals wandte er sich bald wieder von der KHG ab, weil ihm Ziel und Methoden „nicht genügend wissenschaftlich durchdacht“ erschienen. So sagte er es ausweislich des Protokolls 1975 bei einer Anhörung im Oberschulamt. Zu dem Termin hatte er, voller Empörung, eine geharnischte Stellungnahme verfasst. Nur weil er sich an der Hochschule politisch betätigt habe, solle er  seine Ausbildung nicht beenden dürfen? „Wenn dies ein Hinderungsgrund ist“, solle das Kultusministerium dies „deutlich und unmissverständlich erklären“. Er habe seine politischen Vorstellungen „jederzeit . . . öffentlich dargelegt und vertreten“, der Staat dagegen verschaffe sich angebliche „Erkenntnisse“ auf Wegen, die „weder  durchschaubar noch kontrollierbar“ seien. „Darüber möchte ich mein äußerstes  Befremden ausdrücken“, protestierte Kretschmann schriftlich.

Fürsprecher der „besitzlosen Klassen“

Inhaltlich nahm er von seiner Kritik nichts zurück. Seit seinem Engagement an der Hochschule sei die wirtschaftliche Situation der Studenten sogar noch schwieriger geworden, vor allem jener aus kleinen Verhältnissen. Die Antworten der Politik auf die damalige Wirtschaftskrise träfen „ausschließlich die besitzlosen Klassen“, den „Kapitalisten“ hingegen werde „durch das sogenannte Konjunkturprogramm eine Milliarde nach der anderen zugeschoben“. „Die Verhältnisse haben sich seitdem nicht geändert“, bilanzierte Kretschmann seine politische Tätigkeit an der Uni, „und ich nicht meine Ansicht über sie.“ „Von der Gesinnung her“ stehe er der Kommunistischen Hochschulgruppe immer noch nahe, bekräftigte er in der Anhörung. Ob dort „die Frage des Sturzes der Monopolherrschaft und Errichtung der Diktatur des Proletariats“ diskutiert worden sei, wisse er nicht mehr.

Das Kultusministerium entschied schließlich, dass Kretschmann zum Referendariat zugelassen werde – wohl auch unter dem Eindruck der breiten Unterstützung, die er in Hohenheim erhielt. Selbst die Welle der Solidarität wurde vom Verfassungsschutz penibel dokumentiert: ein „im Stadtgebiet von Stuttgart verbreitetes Plakat“ (Aufschrift: „Kretschmann von Berufsverbot bedroht“) übersandten die Schlapphüte ebenso ans Innenministerium wie „mehrere Druckschriften“ – darunter ein Flugblatt der Kommunistischen Hochschulgruppe. „Treffen soll es die, die wie WK offen die Verhältnisse anprangern“, hieß es darin, doch die wollten sich weiter „nicht das Maul verbieten lassen“.

Eine „Duckmaus“ für den Regierungschef

Als Kretschmann nach der Referendarszeit Lehrer werden wollte, gab es erneut Probleme. Er habe im Wahlkampf 1976 an einer Veranstaltung des  Kommunistischen Bundes Westdeutschland teilgenommen, meldete der Verfassungsschutz ans Innenministerium; „die Frage des Oberschulamts nach weiteren gerichtsverwertbaren Tatsachen“ könne man „leider nicht positiver beantworten“. Mit einer Stellungnahme Kretschmanns von 1977, die sich offenbar nicht in den Archivakten befindet, wurden „die Zweifel an seiner Verfassungstreue ausgeräumt“; nach einem Intermezzo an einer privaten Kosmetikschule kam er doch noch in den staatlichen Schuldienst. Heute sagt er von sich gerne, er sei ein „staatlich geprüfter Verfassungsfreund“.

Angesichts dieser persönlichen Erfahrung hätte man erwartet, dass sich Kretschmann „an die Spitze der Aufarbeitung setzt“, hieß es bei der Kundgebung vorige Woche in Stuttgart. Andere Betroffene des Radikalenerlasses litten schließlich bis heute darunter, hätten dauerhaft „Berufs- und Lebenschancen“ eingebüßt, samt finanziellen Nachteilen bei der Pension, monierte die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Doro Moritz. Bei einer GEW-Versammlung erhielt der Grünen-Premier 2012 als Mahnung eine „Duckmaus“, das Symbol der Bewegung gegen Berufsverbote.

Schicksalsgefährten sind enttäuscht

Immer wieder erreichen ihn Briefe von Schicksalsgefährten, die eine kritische Aufarbeitung verlangen. Mit den – teils mehrfach angemahnten – Antworten sind diese selten zufrieden: „Angreifbar“ sei die frühere Praxis, heißt es darin, der Staat dürfe „keine Gesinnungsschnüffelei betreiben“. Staatsfeinde hätten im Staatsdienst auch heute nichts zu suchen, aber die Überprüfung müsse „transparent und fair“ sein. Schon vor zwei Jahren, zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses, hatte Kretschmann angekündigt, man wolle die Praxis im Land „wissenschaftlich aufarbeiten“; ein geeignetes „Format“ werde noch gesucht. Gefunden ist es bis heute nicht. Diese Legislaturperiode geschehe nichts mehr, verlautet aus der Staatskanzlei, das Thema sei „forschungsintensiv und komplex“.

So sehr Kretschmann damit politische Anhänger enttäuscht, so wenig hat er vom politischen Gegner zu befürchten. Der Noch-CDU-Fraktionschef Peter Hauk schrieb 2013 an die GEW, angesichts des rechten Terrors wäre „eine Aufhebung des Radikalenerlasses zum jetzigen Zeitpunkt ein falsches Signal an diese Kräfte“ – so, als bestünde er noch. Und der Noch-CDU-Landeschef Thomas Strobl warnte seine Partei kürzlich bei einer Regionalkonferenz davor, bei der Suche nach Angriffsflächen die Studentenzeit des Ministerpräsidenten ins Auge zu fassen: „Ich würde uns nicht raten, Kretschmann mit seiner kommunistischen Vergangenheit anzugehen.“