Radikalisierung im Kreis Böblingen Wie eine Einrichtung Hitlerbilder und Hakenkreuze zurückdrängt

Hate Speech ist eines der Themen, die die FEX auch in Workshops adressiert. Foto: imago/Thomas Trutschel/Symbolbold

Seit 2015 engagiert sich die Fachstelle Extremismusdistanzierung (FEX) gegen Radikalisierung auch im Kreis Böblingen. Das ist nötig, denn auch hier lauern extremistische Gefahren.

Böblingen: Martin Dudenhöffer (dud)

Schüler, die ein Hakenkreuz auf ein Pult zeichnen oder Jugendliche, die menschenfeindliche Aussagen gegenüber Schulkameraden migrantischen Ursprungs treffen – im Alltag gibt es täglich Situationen, in denen extremistisches Gedankengut zum Tragen kommt. Damit Schüler, Lehrkräfte oder Sozialarbeiter wissen, wie sie sich politisch und religiös begründeter Demokratiefeindlichkeit entgegenstellen können, schult die Fachstelle für Extremismusdistanzierung (FEX) Menschen – auch im Kreis Böblingen.

 

Nun feiert die FEX ihr zehnjähriges Bestehen. 2015, als die Stuttgarter Fachstelle mit Zweigstelle in Sindelfingen-Maichingen unter Geschäftsführer Mathieu Coquelin an den Start ging, gab es auch schon zahlreiche Bedrohungen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung: Pegida, eine sich radikalisierende AfD und die Terrororganisation Islamischer Staat.

Mathieu Coquelin ist seit zehn Jahren Leiter der FEX. Foto: Jochen Faber/INFO & IDEE GmbH

„Auch damals hatten wir große Themen. Dennoch hat man angesichts einer tiefgreifenden Pandemie, den verheerenden Kriegen in der Ukraine und Gaza heute fast das Gefühl, dass man froh wäre, wenn wir ‚nur’ die Themen aus 2015 hätten“, sagt Coquelin, der jahrelang in Böblingen in der Jugendarbeit aktiv war.

AfD-Aufstieg ändert die Gesellschaft

Zehn Jahre später, so der Sozialpädagoge, stehe die Gesellschaft vor noch größeren Herausforderungen. Rechtsextreme, menschenfeindliche und antidemokratische Parolen seien heute präsenter. Und sie seien bis tief in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen, wie der Extremismusexperte erklärt: „Wir sehen eine starke Partei wie die AfD, die der Verfassungsschutz im Mai als ‚gesichert rechtsextrem’, also verfassungsfeindlich, eingestuft hat. Da ändert auch die bis zu einer gerichtlichen Bestätigung geltende Stillhaltezusage nichts. Und wir sehen Desinformationskampagnen wie im Falle der gescheiterten Verfassungsrichterkandidatin, der Politiker der CDU erlegen sind.“

Mit Workshops in der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit versucht der Sindelfinger mit seinem Team entgegenzusteuern. In Sindelfingen beispielsweise ist die FEX regelmäßig aktiv: Ob durch einen Workshop bei Mercedes-Benz oder in Schulen wie dem Unterrieden-Gymnasium in Maichingen, wo die Fachstelle Schulsozialarbeiter und Vertrauenslehrer in den Themen Demokratiebildung und Radikalisierungsprävention schult. In dem Gymnasium können mittlerweile auch Schüler diese Rolle übernehmen. „Das ist ein wichtiger Meilenstein, denn junge Menschen, die Demokratie lernen sollen, müssen teilhaben können und sensibilisiert sein“, betont Coquelin.

Öffentliche Daseinsvorsorge stärken

Es gehe aber nicht nur um Medien- und Demokratiebildung, auch müsse es seitens der Politik konkrete Verbesserungsmaßnahme geben, die Menschen spüren. „Wir wissen aus Studien, dass Bürger, die eine funktionierende Infrastruktur genießen können, weil zum Beispiel der Bus fährt, eine höhere Zufriedenheit zu Staat und Demokratie aufweisen. Gemessen werden konnte auch, dass die Zustimmungswerte für rechtspopulistische Parteien dann sinken“, betont der 42-Jährige. Kulturkampfthemen wie Gendersprache und der Verbot von Veggie-Wurst-Bezeichnungen, die die Politische Rechte besonders befeuert, verstärkten die antidemokratische Haltung vieler Bürger nur.

Spürbare Verbesserungen des Lebens wirkten also einer Radikalisierung entgegen. Das allein, so die Erfahrung des Extremismusexperten, reiche aber nicht aus. Die Wirkungsmacht von Sozialen Medien und Messengerdiensten – die von einzelnen Multimilliardären geführt werden – sei so groß, dass nur über staatliche Regulierungen wieder Kontrolle gewonnen werden könne, ist sich Coquelin sicher: „Wir beobachten im Kreis Böblingen auch, dass in Whatsapp-Chats oder Facebook, TikTok und Instagram Hitlermemes, Hakenkreuzbilder oder menschenverachtende Aussagen getätigt werden, ohne dass die Plattformenbetreiber juristisch haftbar gemacht werden. Das muss sich ändern.“

Ein Blick in die Zukunft

Zehn Jahre nach Gründung der Fachstelle schaut Mathieu Coquelin mit gemischten Gefühlen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen: „Einerseits müssen wir feststellen, dass vieles von dem, was der Publizist Michel Friedman 2019 einer Podiumsdiskussion bei uns angemahnt hat, genauso eingetreten ist und wir daher alle sehenden Auges in die Schwierigkeiten geschlittert sind.“ Andererseits, sagt der Sindelfinger, sehe er bei jungen Menschen eine Sensibilisierung und Offenheit für politische Themen, auf die man aufbauen könne. „Wenn wir, die mit jungen Menschen zu tun haben, offen und nah dran bleiben, können wir positiven Einfluss nehmen“, betont Coquelin.

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