Die Netzexpertin Ingrid Brodnig beobachtet eine zunehmende Polarisierung im Internet und sieht die Demokratie dadurch bedroht. Radikale Gruppen fänden in sozialen Netzwerken große Resonanz, weil es dort einfacher sei, Gleichgesinnte zu finden.
04.02.2016 - 13:50 Uhr
Stuttgart - Die Netzexpertin Ingrid Brodnig erklärt, warum die extreme Polarisierung im Internet zunimmt und die Demokratie bedroht.
Frau Brodnig, Sie führen Phänomene wie Pegida auf die Radikalisierung im Netz zurück. Wäre die Gruppe ohne das Internet nicht entstanden?
Es gibt in vielen radikalen Gruppen eine klare Feindstellung: wir und die anderen. Diese wird durch die Struktur sozialer Netzwerke verstärkt, weil es dort einfacher ist, Gleichgesinnte zu finden. Das Internet ist nicht die Ursache gesellschaftlicher Dissonanz, aber es befördert diese. Pegida entstand in der Tat als Facebook-Gruppe. Man kann dort sehr gut beobachten, wie Abschottung funktioniert: andere Meinungen lassen sie nicht gelten, sie bezeichnen sie als von der Lügenpresse beeinflusst. Pegida wurde zum Chiffre für alle, die sich missverstanden fühlen.
Früher gab es auch Gerüchte, Falschinformation und Anhänger von Verschwörungstheorien. Ist es wirklich eine neue Qualität im Netz?
Das stimmt, viele Faktoren gab es auch in der Vergangenheit. Beispielsweise den Confirmation Bias, der besagt, dass Menschen eher nach jenen Informationen suchen, die ihre Meinung bekräftigen, und sich an Fakten besser erinnern, die sie bestätigen. Jetzt werden diese menschlichen Faktoren durch technische verstärkt: etwa durch den Algorithmus von Facebook, der dafür sorgt, dass ich vor allem Meinungen sehe, die meiner ähnlich sind.
Dabei wurden in der Frühzeit des Internets gegenteilige Hoffnungen in das Medium gesetzt. Durch die Unsichtbarkeit sollten Vorurteile keine Rolle spielen. Wo sind wir falsch abgebogen?
Das finde ich auch spannend, dass damals die Unsichtbarkeit als große Chance gesehen wurde. Vielleicht war es ein Denkfehler: Toleranz entsteht schließlich durch Akzeptanz, nicht durch Unsichtbarkeit. Als Frau will ich nicht nur dann respektiert werden, wenn man nicht sieht, dass ich eine Frau bin. Und diese Unsichtbarkeit trägt heute zum Problem bei: wenn ich online diskutiere, sehe ich mein Gegenüber nicht. Mir fehlt die Mimik und die Gestik, um einzuschätzen, wie er reagiert. Augenkontakt fördert Empathie – und der fehlt online. Psychologen sprechen von einem Enthemmungseffekt im Internet. Deshalb wird es schnell ruppig, und Debatten verlaufen extrem polarisiert.
Andererseits schützt die Anonymität unter anderem politisch Verfolgte, die im Netz ihre Meinung äußern und für Freiheit kämpfen.
Das ist die positive Seite der Medaille. Aber die andere Seite gab es von Anfang an auch, sie war nur nicht so sichtbar. Schon in den 1990er Jahren wurde immer wieder vor Hassgruppen im Netz gewarnt. Jetzt ist das Internet viel wichtiger in unserem Leben, deshalb holen uns diese Probleme nun ein.
Wie relevant sind diese Hassgruppen heute? Bedrohen sie die Demokratie?
Diese extreme Polarisierung ist eine Bedrohung. Eine Demokratie beruht darauf, andere Standpunkte zu respektieren und sich in zentralen Fragen auf einen Konsens zu einigen. Wenn polarisierte Gruppen andere Meinungen nicht mehr gelten lassen und nicht mehr miteinander reden, wird diese Konsensfindung schwierig.
Was können wir tun? Ist Zensur eine Lösung?
Zensur ist ein irreführendes Wort. Zensur ist, wenn ein Staat die Rechte seiner Bürger einschränkt. Darum geht es hier nicht. Die Meinungsfreiheit ist keine Narrenfreiheit, sie schützt mich nicht vor der Kritik anderer Menschen. Das Wunderbare im Netz ist, dass selbst die verschrobensten Ansichten irgendwo zu finden sind. Aber es gibt kein Recht darauf, von jedem gehört zu werden. Wenn ich eine Webseite habe, bin ich nicht verpflichtet, radikale Kommentare zu veröffentlichen.