In Jürgen Domians Talkshows offenbaren Menschen ihre geheimsten Gedanken. Im StZ-Interview spricht er über seine Sendung, Sex und Erfolg.

Stuttgart - Nacht für Nacht offenbaren Menschen in Jürgen Domians Radiotalkshow ihre geheimsten Gedanken, erzählen von Liebe, Eifersucht und Tod. Es ist, als säße man neben einem Pfarrer im Beichtstuhl, so hat die FAZ einmal geschrieben. Im StZ-Interview spricht Domian über 15 Jahre Sendung, über Tapferkeit, Sex und Erfolg.

Jürgen Domian, wenn man Ihre Sendung schaut, hat man den Eindruck, das Leben sei voller Probleme.


Das Leben ist voller Probleme. Die meisten Anrufer ertragen tatsächlich ein hartes Schicksal oder haben ernsthaft Sorgen.

Warum wenden sich die Leute nicht an eine professionelle Telefonseelsorge, sondern wählen eine öffentliche Sendung?


Wissenschaftliche Arbeiten über die Sendung sagen: weil die Leute mich durch meine jahrelange, allnächtliche Präsenz kennen und einschätzen können. Bei einer Seelsorge rufen die Leute blind an, sie haben keine Ahnung, wer am anderen Ende abhebt. Hier kennt man den Typen, man geht davon aus, dass man ordentlich behandelt wird, und weiß, dass nach der Sendung auch professionelle Hilfe vermittelt wird.

Reden die Menschen nachts offener?


Ja, das auch. Die Nacht ist ein Biotop, die Nacht öffnet die Seelen. Privat ist das ja auch so: Bei Sonnenschein im Eiscafé redet man anders mit einem Freund als bei Kerzenschein. Viele Leute sind allein, und nachts wird ihnen das besonders bewusst. Dann besteht Gesprächsbedarf. Dass ich ihnen als freundschaftlicher Ratgeber begegne, nimmt vielen die Angst, die sie vor einem Therapeuten oder Psychologen haben. Sie denken, der durchschaut und kategorisiert einen gleich. Deshalb das Konzept der Sendung: da sitzt ein Mensch wie du und ich.

Ist den Anrufern bewusst, dass Hunderttausende im Fernsehen und Radio ihre intimsten Geständnisse hören?


Wir sagen vorher jedem, der über ein heikles Thema sprechen möchte, dass er sich darüber im Klaren sein muss. Denn wir tragen eine hohe Verantwortung. Die Anrufer vergessen oft, dass andere zuhören, gerade, wenn sie über Dinge reden, die sie nie zuvor jemandem erzählt haben.

Warum ist die Sendung so erfolgreich?


Das hat mehrere Gründe. Natürlich haben wir Voyeure, das ist völlig normal. Dann gibt es Menschen, die sich informieren wollen. Für sie ist es interessant zu hören, wie andere mit schweren Schicksalen umgehen. Daraus kann man für sich selbst Rückschlüsse ziehen, mir persönlich geht das auch so. Wieder andere hören die Sendung in der Hoffnung auf Antworten. Ich bekomme oft Briefe von Leuten, die mir sagen: Durch dein Gespräch, das du mit XY geführt hast, hab ich die Einsicht gewonnen, dies und jenes für mich zu tun. Das sind für mich die schönsten Erfolgserlebnisse – mehr noch als die Einschaltquote. Diese menschlichen Feedbacks machen meine Arbeit sehr sinnvoll.

Wenn Sie auf die vergangenen 15 Jahre zurückblicken: Sind die Probleme der Gesellschaft heute andere als früher?


Zumindest die Themen haben sich verändert. Die Leute wollen weniger über Sexualität sprechen, das war in den ersten Jahren ganz anders. Damals, als der erste Windelfetischist in meiner Sendung auftauchte, war das spektakulär. Heute sind wir übersättigt. Man weiß, dass es so was gibt, und damit ist es gut. Die quotenstärksten Sendungen sind die, in der es um Menschliches geht, um etwas, das uns alle betrifft: Liebe, Eifersucht, Einsamkeit, Krankheit, Tod.

Spielt das Thema sexueller Missbrauch zurzeit eine größere Rolle?


Nein. Ich bin sehr erschüttert über das, was gerade überall ans Licht kommt. Aber es erstaunt mich nicht, weil wir in all den Jahren so viele Fälle von sexuellem Missbrauch hatten – nicht nur aus klerikalem, sondern natürlich auch aus familiärem Umfeld. Seit ich diese Sendung mache, erahne ich, was für eine riesige Dunkelziffer es gibt, von der wir alle keine Ahnung haben.

Hat sich der Typ Anrufer geändert?


Wir sind eine der wenigen Sendungen der ARD, die keine spezielle Zielgruppe hatte und hat. Uns rufen alle an: Männer, Frauen, aus allen Berufen, aus ganz Deutschland. Der jüngste war bisher elf Jahre alt, der älteste 91. Das Interessante ist: die Jungen gähnen nicht bei dem, was eine 50-jährige Frau erzählt, und umgekehrt.

Eint diese Menschen, dass sie einsam sind?


Ja, es gibt eine ungeheure Anzahl von Menschen, die keine Freunde, niemanden zum Reden haben. Das ist erschütternd. Mir ist erst im Laufe der Jahre klar geworden, dass unsere Welt so ist. Für diese Menschen ist die Sendung ein Strohhalm.

Welche sind die schwersten Gespräche?


Gespräche mit Menschen, die sterben werden, und Menschen, die jemanden verloren haben. Fürchterlich war das Telefonat mit einer Mutter, deren Kind entführt, sexuell misshandelt und ermordet worden war. Da spürt man seine Grenze. Was will man dieser Frau sagen? Ich habe begriffen, dass das Zuhören sehr wichtig ist. Dass man durch Zuhören ein wenig Trost geben kann. Das ist nicht viel, aber es ist schon etwas.

Oft endet das Gespräch auch mit einem persönlichen Rat. Wie gehen die Geschichten aus? Verfolgen Sie Schicksale weiter?


Das kann unser kleines Team nicht leisten. Aber ab und zu meldet sich ein Anrufer wieder. Es freut uns, wenn wir hören, dass er seinen Weg gefunden hat. Manchmal gibt es am Jahresende Sendungen, in denen Leute ihre Geschichte weitererzählen.

Welche sind die schönsten Gespräche?


Zum Beispiel solche, aus denen am Ende eine Ehe zwischen einem Anrufer und einem Zuhörer geworden ist. Es gab einen Kontaktwunsch, wir haben ihn hergestellt und die beiden haben sich verliebt. Oft bewegen mich die traurigsten Gespräche sehr, in denen Menschen mit Schwerstschicksalen und Krankheiten von sich erzählen. Und trotzdem sind diese Menschen unglaublich tapfer. Das bewundere ich.

Und welche waren die verrücktesten Gespräche?


Die verrücktesten haben immer mit Sexualität zu tun. Vor vielen Jahren tauchte bei uns, ich glaube sogar erstmals in allen Medien, das Thema Objektsexualität auf, also Menschen, die ihre sexuelle Sehnsucht und Liebe auf ein Objekt richten. Das war in unserem Fall eine Heimorgel. Es klang völlig absurd, und ich habe auch erst gelacht. Aber meine Kollegen stellen mir solche extremen Sachen live in die Sendung, wenn sie das gut geprüft haben. Der Mann war ein sehr angenehmer und eloquenter Gesprächspartner. Und wir haben erfahren, dass es das wirklich gibt. Kurz darauf war ich in der Talkshow von bei Kerner und habe davon erzählt - man hätte eine Stecknadel fallen gehört, weil die Leute im Studio komplett baff waren. Heute haut das Thema keinen mehr um.

Sie haben es angesprochen: Dieser Mann war glaubwürdig. Jede Nacht versuchen Tausende von Anrufern durchzukommen. Wie viele sind ehrlich und haben wirklich eine Geschichte zu erzählen?


Mein Team ist sehr gut darin, Lügner und Wichtigtuer herauszufiltern, weil Fakes die Glaubwürdigkeit der Sendung schaden würden. Wenn einer lügt, ist der, der wirklich betroffen ist und die Wahrheit ausspricht, beim Publikum nicht mehr glaubwürdig. Dennoch passiert es hin und wieder schon mal, dass so ein Anrufer durchkommt. Es gibt gute Lügner. Andererseits hab ich schon das Gespräch mit Leuten abgebrochen, weil mir die Geschichte nicht echt vorkam – zu Unrecht, wie sich später herausgestellt hat.

Was haben Sie in den vergangenen 15 Jahren über das Leben, über Sie selbst gelernt?


Demut. Das hoffe ich. Ich relativiere meine eigenen Probleme. Über das Leben habe ich gelernt, dass der Mensch noch viel schlechter ist als ich früher gedacht habe.



Natürlich sind die 20000 Gespräche, die ich bisher in der Sendung geführt habe, eine Inspiration. Wie sich das im Detail niederschlägt, weiß ich aber nicht. Ich habe einfach losgelegt zu schreiben. Das Schreiben ist für mich eine Form des Ausgleichs und eine Form der Lebensbewältigung.

Und wann schreiben Sie, in schlaflosen Nächten?


Das ist ein großes Problem. Ich habe die letzten Jahre in großer Einsamkeit gelebt, weil ich sämtliche Wochenenden und freie Tage zum Schreiben brauchte. Nachts, wenn ich nach Hause komme, habe ich Korrektur gelesen und in Grammatikbüchern nachgeschlagen, weil ich nicht schlafen kann, oft bis halb sechs. Dabei kommt man ganz gut runter.

Schreiben Sie mal wieder ein Buch über die aufregendsten Geschichten Ihrer Anrufer?


Nein, nach drei Büchern ist das erschöpft. Ich bleibe bei der Belletristik. Echte Geschichten gibt’s nur noch in der Sendung.

Die Sendung:

Am 3. April 1995 startet Domians gleichnamige Telefontalkshow im WDR-Hörfunk und -Fernsehen. Punkt ein Uhr erscheint der Moderator mit großen Kopfhörern auf dem Bildschirm, in Hemd oder Jeansjacke, vor ihm ein Glas Wasser, hinter ihm eine kleine Hirschstatue. Er führt fünf bis sechs Gespräche pro Sendung – das macht etwa 20 000 nach 15 Jahren. Allein im Fernsehen verfolgen jede Nacht 230.000 Zuschauer die Interviews, deren Themen mal offen, mal vorgegeben sind.

Die Person Jürgen Domian:

Jürgen Domian, 1957 in Gummersbach geboren, lebt in Köln. Er hat Germanistik, Philosophie und Politik studiert. Vor seiner Radioshow arbeitete er als Reporter für mehrere ARD-Sender und als Moderator ausgerechnet von Morgenmagazinen. „Früh aufzustehen, das war die Hölle für mich“, sagt der Nachtmensch, der heute selten vor halb sechs ins Bett kommt.

Das Buch:

Domians zweiter Roman, „Der Gedankenleser“, ist soeben im Heyne-Verlag (19,95 Euro) erschienen und auch als Hörbuch erhältlich.