Radrennen Paris-Roubaix Großer Zirkus im Idyll

Der Klassiker unter den Rennen ist besonders hart. Foto: Krohn

Schlamm, Matsch, Drama: Der Radklassiker Paris–Roubaix stellt jedes Frühjahr die französische Kleinstadt Compiègne auf den Kopf.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Compiègne - An diesem Ort beginnt die Hölle. Der Place du Château in Compiègne ist ein graues Meer aus grobem Kopfsteinpflaster. Es ist der ideale Start für den Radklassiker Paris–Roubaix. Am frühen Morgen ist die Welt noch in Ordnung. In kleinen Gruppen fahren die Profis in der noch schwachen Frühlingssonne zum Aufwärmen über die Avenue Royal in Richtung Stadtzentrum. Wenig später ist kein Durchkommen mehr, zu viele Fans belagern die in der Allee geparkten Mannschaftsbusse der Teams, schießen Fotos von ihren Idolen und bestaunen die Rennmaschinen der Sportler.

 

Maurice ist der Trubel zu viel. „Es ist jedes Jahr dasselbe“, sagt der Pensionär und hat es sich mit Kaffee, Croissant und einem Glas Wein vor der Bar du Palais an einer etwas entfernten Ecke des Place du Château gemütlich gemacht. „Die belagern die Stadt, und alle sind ganz laut und aufgeregt“, schimpft er vor sich hin. Früher sei alles anders gewesen, beginnt der alte Mann schließlich eine fast unvermeidliche Ode an vergangene Zeiten im Sport. Es fallen Worte wie seelenlos und überzüchtet.

Die Erklärung für seine ganz persönliche Abneigung ist dann eher erstaunlich, aber für ihn durchaus plausibel. Jedes Jahr sitze er zum Start hier im Café – aber früher hätten ihm nicht die vielen Mannschaftsbusse und Begleitfahrzeuge die Sicht auf die Abfahrt der Rennfahrer verstellt. Verpassen will er das Spektakel Paris–Roubaix dann allerdings auch nicht, denn wie die meisten Franzosen erweist sich auch Maurice als ausgewiesener Radexperte.

Mehr als 170 Fahrer aus 25 Teams

Also sitzt er auch dieses Mal mit trotziger Mine auf seinem Stammplatz. Von hier aus kann er zwar nichts sehen, aber hören kann er, wie der Sprecher am Mikrofon die Teams und die Fahrer einzeln vorstellt. Fast jeder Name wird von ihm kommentiert. Mit dem Kellner fachsimpelt er schließlich leidenschaftlich über die Form einzelner Profis und diskutiert ihre Chancen auf den Tagessieg. Sein Favorit: Arnaud Démare. Der Franzose ist der Liebling der Fangemeinde in Compiègne. Den späteren Sieger Philippe Gilbert hatte allerdings keiner der Experten aus der Bar du Palais auf der Liste. Der belgische Ex-Weltmeister hatte nach 257 Kilometern im ehrwürdigen Velodrom von Roubaix ganz knapp die Nase vor dem 25-jährigen deutschen Radprofi Nils Politt. Das Duo hatte sich 13 Kilometer vor dem Ziel auf einer der härtesten von insgesamt 29 Kopfsteinpflasterpassagen aus einer kleinen Spitzengruppe abgesetzt. Auf der Betonpiste im Velodrome kam es schließlich zum Zwei-Mann-Sprint, den Philippe Gilbert knapp gewann.

Auch dieses Mal hatten sich mehr als 170 Fahrer aus 25 Teams auf den leidensreichen Weg in Richtung Roubaix gemacht. „La Reine des Classiques“, die Königin der Klassiker, wird die rund 250 Kilometer langen Strecke quer durch den Norden Frankreichs von den Fans voller Ehrfurcht genannt. Die Sportler erwarten kaum zu beschreibende Strapazen, denn fast 60 Kilometer der Strecke werden auf dem berüchtigten Kopfsteinpflaster zurückgelegt. Diese Pavé sind eine Herausforderung für Mensch und Material.

Die Strecke führte nach dem Ersten Weltkrieg durch die von Bomben verwüstete Landschaft

Bei Paris–Roubaix wird nicht gefahren, dort wird gekämpft – bei Hitze durch Staub, bei Regen durch Schlamm, über Feldwege, durch Wälder und immer wieder über Kopfsteinpflaster. Denn der Mensch will seine Helden leiden sehen.

Seinen martialischen Namen, die „Hölle des Nordens“, bekam der erstmals 1896 ausgetragene Klassiker allerdings nicht wegen der Strapazen für die Sportler. Die Strecke führte nach dem Ersten Weltkrieg mitten durch die von Bomben verwüstete Landschaft, wo nur wenige Monate zuvor Millionen Menschen ihr Leben gelassen hatten. Die Grauen der Geschichte bilden längst nur noch den pittoresken Hintergrund für eine Sportveranstaltung, die bisweilen eher einem Wanderzirkus gleicht.

In Compiègne platzt man vor Stolz aus allen Nähten, ein Teil des Mythos sein zu dürfen. Zum 43. Mal wird das legendäre Rennen dort begonnen. Ende der 70er Jahre wurde der Start von Paris rund 70 Kilometer weiter nach Norden in die Stadt an der Oise verlegt, der Name aber natürlich blieb derselbe. Das restliche Jahr über scheint das idyllische Städtchen mit seinem prächtigen Schloss und der malerischen Parkanlage aus dem 18. Jahrhundert nur darauf zu warten, aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst zu werden.

Für das Rennen wird die gesamte Innenstadt lahmgelegt

„Wenn der Frühling naht, fiebern wir immer sehr ungeduldig auf dieses Wochenende“, verkündet denn auch Christian Tellier, Sportbeauftragter der Stadt, voller Vorfreude. Diese Zuneigung wird von den Partnern höflich erwidert. „Wir sind jedes Mal begeistert, hierherzukommen, weil wir wissen, dass wir gut aufgenommen werden“, erwidert Christian Prudhomme, einflussreicher Radchef des Rennveranstalters ASO. Die Chancen stehen also gut, dass auch dieser Start in Compiègne nicht der letzte gewesen sein wird. Weil die Macher des Events vor Ort wissen, dass für einen Tag die Augen der gesamten Radwelt auf Compiègne gerichtet sind, begnügen sie sich bei der Organisation nicht mit halben Sachen. Schon Wochen vor dem Start steht Christian Tellier unter Starkstrom, denn auf ihn wartet eine logistische Herkulesaufgabe. Für das Rennen wird die gesamte Innenstadt lahmgelegt. Plätze und Straßen werden gesperrt, Kilometer an Kabeln verlegt, Absperrungen errichtet, Tribünen aufgebaut, Hotels gebucht, ein Rahmenprogramm organisiert.

Natürlich sind auch in diesem Jahr nicht nur die Profis am Start. Im Vorfeld gibt es mehrere Rennen für Amateure und den Radnachwuchs. Die wären in diesem Jahr allerdings fast ins Wasser gefallen. Im Februar wurde bekannt, dass die Finanzierung des Juniorenrennens nicht gesichert war. Einige Profifahrer, allen voran der Deutsche John Degenkolb, sammelten daraufhin Geld und sicherten im letzten Moment die Austragung des Rennens.

Kritik an der Kommerzialisierung des Radsports

Es sind auch diese kleinen Geschichten, die das Rennen Paris–Roubaix zur Legende machen. Maurice, der Wut-Rentner aus der Bar du Palais, kennt sie natürlich alle. Ziemlich schnell kommt er bei seinen Betrachtungen der Vergangenheit auf den Namen André Mahé. Der Radrennfahrer stammt aus der Nähe von Compiègne und hat das Rennen Paris–Roubaix vor genau 70 Jahren gewinnen können. Danach war er in der gesamten Region ein gefeierter Held. Diesen Triumph musste er sich damals allerdings mit dem Italiener Serse Coppi teilen. Der Grund: Ein Polizist hatte André Mahé kurz vor dem Ziel falsch auf die Radrennbahn in Roubaix geleitet. Über Monate wurde im Radverband gestritten, wem der erste Platz gebührt, doch am Ende gab es ein salomonisches Urteil: Der Franzose und der Italiener wurden zu Siegern erklärt.

Die Erinnerungen von Maurice werden durch die sich überschlagende Stimme des Sprechers unterbrochen. „Das Rennen wird in wenigen Sekunden gestartet!“ Als die Glocke vom nahen Rathausturm 11 Uhr schlägt, macht sich die gesamte Rennkarawane unter dem Jubel Zehntausender Fans auf ihren langen Weg nach Roubaix.

Maurice könnte sich nun kurz von seinem Stuhl erheben, um einen Blick auf das davonrasende Fahrerfeld zu erhaschen. Aber trotzig bleibt er sitzen und nippt an seinem Wein. Es ist seine ganz persönliche Kritik an der Kommerzialisierung des Radsports. Tief in seiner Seele ist Maurice aber Radsportfan geblieben. Auch im kommenden Jahr wird er seinen Sitzstreik in der Bar du Palais fortsetzen.

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