Zehn Jahre ist es her, dass die Radsport-Generation um Jan Ullrich im Dopingsumpf versank. Doch neue Stars haben in Deutschland eine frische Lust auf Profiradsport entfacht.

Sport: Heiko Hinrichsen (hh)

Stuttgart - Wer einen kleinen Einblick gewinnen möchte, wie das früher so war mit dem latenten Größenwahn und der Kumpanei im deutschen Profiradsport, dem taugt eine Alltagsszene aus der Zone Téchnique während der Tour de France von 2005. Dort, wo inmitten eines schier endlosen Kabelgewirrs die großen Übertragungswagen der internationalen Fernsehstationen stehen, hat damals die ARD-Tourmannschaft – das Logo des Senders prangte auch auf dem Trikot des T-Mobile-Radteams – regelmäßig eine Bierbank aufgestellt. Gerne im Schatten des eigenen Ü-Wagens mit der mächtigen Moderatoren-Plattform, der Größten im Tross, prächtiger als die des federführenden Senders France ⅔2/3.

 

Auf der Bank saßen sie dann während der stundenlangen Etappen am Zielort gerne beisammen, die Drahtzieher im Big Business Radsport. Der T-Mobile-Teamchef Olaf Ludwig etwa, der den Belgier Walter Goodefroot beerbt hatte, wie auch die Fernsehmacher aus Allemagne, die mit ihren Rennbildern vor malerischer Alpen- oder Pyrenäenkulisse, mit ihrem Block „Tour Kultur“ oder den liebevollen Filmchen hinter den Kulissen der Grande Boucle mit dafür sorgten, dass der Radsport bei den Sponsoren beliebt blieb.

Kritische Nachfragen aber zum Dauerthema Doping blieben bei der ARD außen vor – lieber bezahlte man dem Radhelden Jan Ullrich ein sechsstelliges Honorar für Exklusivinterviews, auch in Zeiten noch, als die größten Beelzebuben des Senders nicht mehr mitmischen durften. Der HR-Sportchef Jürgen Emig zum Beispiel, der vom Landgericht Frankfurt am Main am 2. Oktober 2008 wegen Bestechlichkeit, Beihilfe zur Bestechung und Untreue zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde. Beim deutschen Klassiker „Rund um den Henninger Turm“ in Frankfurt etwa, da hatte Emig Werbebanden in guten Kamerapositionen an Firmen verkauft – und die Einnahmen in die eigene Tasche gesteckt. Ihm zur Seite am Kommentatoren-Mikrofon saß einst Hagen Boßdorf vom Radio Berlin Brandenburg (RBB), der die Ullrich-Autobiografie geschrieben hatte, nebenbei Veranstaltungen der Deutschen Telekom moderierte – und schon mal live vor einem Millionenpublikum über den Berliner Radprofi Jens Voigt vom dänischen Team CSC herzog, nur weil dieser seine Pflicht tat und seinen Kapitän Ivan Basso an eine Ullrich-Fluchtgruppe heranführte.

Die Räder und der Euro rollten

Kritische Distanz war also bei vielen ein Fremdwort in Zeiten, in denen das Peloton auch in Deutschland noch durch blühende Landschaften radelte. Mit den Teams T-Mobile, Milram und Gerolsteiner gab es drei deutsche Erstliga-Équipen, und die Deutschlandtour war nach jahrzehntelangem Stillstand als zehntägiges Etappenrennen längst reaktiviert. Die Räder und der Euro rollten, Spitzenfahrer kassierten hohe sechsstellige Gehälter und die Heldenrollen, sie waren variantenreich besetzt: Neben dem pomadigen Kaiser Ullrich, dem Deutschlands erfolgreichste Mobilfunker bis zu drei Millionen Euro per Annum überwiesen, gab es den sprintschnellen Erik Zabel, Mister Courage Voigt, oder den weltmännischen Marcel Wüst – und der ewige Kämpfer Udo „Quäl Dich, Du Sau!“ Bölts, der war am Ende Sportlicher Leiter beim Team Gerolsteiner, dem Emporkömmling aus Herrenberg-Gültstein.

Der Anfang vom Ende des Mythos um den so sympathisch simpel gestrickten Pedalhelden Jan Ullrich, um seine Helfer und Helfershelfer, er wurde derweil vor dem „Hôtel au Boeuf“ in dem kleinen elsässichen Städtchen Blaesheim inszeniert. Sport-Deutschland feierte Stunden später den Halbfinaleinzug der Fußball-Nationalelf bei der WM 2006 per Elfmeterschießen über Argentinien in Berlin, als Jan Ullrich vormittags vor laufenden Kameras in Blaesheim unmittelbar vor dem Tourstart aus dem Rennen genommen wurde. Nicht auf dem Spickzettel des Elfmetertöters Jens Lehmann, sondern in den Notizen des spanischen Blutpanschers Eufemio Fuentes war sein Kundenname vermerkt.

Als Doper enttarnt, konnte Jan Ullrich noch so lange trotzig insistieren („Ich habe niemanden betrogen“), mit ihm gingen zunächst viele Kollegen des 1997er-Toursiegerteams wie Zabel, Bölts, Jens Heppner, Bjaerne Riis oder Rolf Aldag im Dopingsumpf unter, ehe es nach und nach für alle deutschen Profiteams wie auch für die Deutschlandtour, die traditionsreiche Bayern-Rundfahrt und viele andere Rennen, etwa das Paarzeitfahren im badischen Brühl, hieß: Rien ne va plus, nix geht mehr!

Schwere Jahre im Spartensender Eurosport

Jahre im Schattendasein des TV-Spartensenders Eurosport mit seiner ebenso enthusiastischen wie in Dopingfragen unkritischen Radsportredaktion um den Chef Karsten Migels vergingen, ehe der ARD-Programmdirektor Volker Herres im vergangenen Sommer folgende Botschaft verkündete: „Die jüngsten deutschen Erfolge, gerade bei der Tour de France, und die neue Generation deutscher Radsportler, die sich immer wieder offen für einen dopingfreien Sport einsetzt, haben zu einer größeren Attraktivität dieses Sportereignisses geführt“, schrieb der Fernsehboss unter die frohe Botschaft, dass die ARD bei allen Etappen der Tour de France wieder live dabei ist – und auch über ausgewählte Klassiker wie die Flandern-Rundfahrt am nächsten Samstag berichtet.

Tony Martin, der nach einem Trainingscrash mit einer britischen Geisterfahrerin verletzte John Degenkolb, Marcel Kittel, Simon Geschke oder André Greipel, dazu der talentierte Allrounder Emanuel Buchmann, so lauten die klangvollsten Namen der neuen Generation Hoffnung im deutschen Radsport. Mit dem Team Giant-Alpecin gibt es wieder einen deutschen Erstligastall; mit Bora Argon einen Zweitdivisionär, der wie in den beiden Vorjahren auch im Juli 2016 per Wildcard im Tour-Starterfeld zu finden sein wird. Überhaupt streckt die Frankreich-Rundfahrt nach Jahren der Agonie wieder ihre Fühler nach Deutschland aus. So wird der Grand Départ, der Gesamtstart der Rundfahrt, in 2017 mit einem Zeitfahren am Düsseldorfer Rheinufer erstmals seit 1987 (West-Berlin) wieder hierzulande ausgefahren.

Die Deutschlandtour wird wieder ausgefahren

Spätestens bis 2018 soll auch die Deutschlandtour wiederbelebt sein. „Sie ist ein weiteres Element, um die Radsport-Begeisterung in Deutschland auszubauen“, sagt Rudolf Scharping, der Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR) der mit der Amaury Sport Organisation (A.S.O.), dem Veranstalter und Eigentümer der Tour de France, eine Vereinbarung unterzeichnet hat, um in den kommenden Jahren den deutschen Radsport zu fördern.

Das belegt einerseits die Wertschätzung, welche die Franzosen ihrem östlichen Nachbarn und seinem wichtigen Werbemarkt wieder entgegen bringen; andererseits zeigt es die neu-entfachte Lust der Deutschen auf Profiradsport. Dazu beigetragen haben vor allem die jüngsten Erfolge der deutschen Pedaleure, die von André Greipel (vier Tour-Etappensiege allein im Vorjahr), Marcel Kittel (vier Tour-Etappensiege 2014), von Tony Martin, dem dreifachen Weltmeister im Einzelzeitfahren, und nicht zuletzt von John Degenkolb.

Der 27-Jährige aus Gera gewann 2015 den Klassiker Mailand–Sanremo, und damit eines der Monumente des Radsports; kurz darauf war Degenkolb auch im Zielsprint im Vélodrome von Roubaix erfolgreich – und siegte als erster Deutscher nach 119 Jahren beim Klassiker Paris-Roubaix, der Hölle des Nordens mit ihren elenden Kopfsteinpflaster-Passagen. Zudem haben Marcel Kittel und Co. offenbar aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt. „Wenn ich sehe, dass einige Leute Lance Armstrong weiter unterstützen“, sagt der blonde Sunnyboy Kittel, „dann wird mir schlecht.“