Der RTC Stuttgart organisiert unter strengen Hygiene- und Abstandsregeln die landesweit erste Radtourenfahrt des Jahres 2020. 123 Kilometern – so lang ist die mittlere Variante der RTF „Rund um Stuttgart“.

Stuttgart/Rems-Murr-Kreis - Sehnlich habe ich Heike Faber erwartet. Zugegeben, bis vor wenigen Minuten war mir die 58-Jährige noch gänzlich unbekannt, aber als Chefin der Verpflegungsstelle vor dem Radhaus in Renningen trägt sie eindeutig dazu bei, meine Kräfte wieder herzustellen.

 

Die Corona-Schutzverordnung des Landes macht für Radtourenfahrten strenge Vorgaben

„Es gibt Corny oder Reis mit Frucht“, sagt die Helferin bei der Radtourenfahrt (RTF) des RTC Stuttgart. Ich entscheide mich für die Riegelvariante mit Mango. Mehr noch aber ziehen mich die Kanister mit Zitronentee an, die Heike Fabers Ehemann Wolfram Faber zuvor gefüllt hat. Nach 47 von insgesamt 123 Kilometern – so lang ist die mittlere Variante der RTF „Rund um Stuttgart“ – sind meine Trinkflaschen leer, der Nachschub kommt zum richtigen Zeitpunkt. Nachdem der erste Streckenabschnitt durch Fellbach, Schmiden und zum Oeffinger Neckarufer tendenziell bergab ging, galt es auf der anderen Flussseite, die ersten Höhen zu erklimmen. Vor allem bei Heimerdingen, also nach einem knappen Drittel der Strecke, kamen dann längere kräftezehrende Anstiege hinzu. „Es ist alles ein bisschen anders als sonst“, hatte Elvira Michler bereits am Start beim Vereinsheim des TB Untertürkheim gesagt. Die Kassiererin des RTC Stuttgart kann es gut beurteilen, denn es ist die 40. Auflage der Runde, „und ich war schon bei der ersten Tour als Helferin dabei“, sagt die 54-Jährige.

Windschattenfahren ist verboten

Die Corona-Schutzverordnung des Landes macht für Radtourenfahrten strenge Vorgaben. Verpflegung gibt es nur in abgepackter Form, und die sonst übliche spontane Anmeldung am Start ist nicht möglich. Jeder der 380 Teilnehmer musste vorab ein halbstündiges Zeitfenster buchen, in dem sein Start lag. Vor allem aber ist Windschattenfahren verboten, ein Mindestabstand von zwei Metern verpflichtend. Das bedauern nicht nur ambitioniertere Starter wie der Fellbacher Klaus Röttgen, 46. Bereits in jugendlichem Alter hat der gertenschlanke Hüne bei einem Zeitfahren ein Stundenmittel von 47 Kilometern erreicht und dabei wie seine Teamgefährten vom gegenseitigen Windschatten profitiert.

Bei „Rund um Stuttgart“ sind die letzten zehn Kilometer bis zur zweiten Verpflegungsstation in Waldenbuch der Hochgeschwindigkeitsabschnitt. In coronafreien Jahren finden sich hier schon mal Gruppen mit 20 Fahrern zusammen. Auch Gelegenheitsradler rasen dann mit mehr als 40 Stundenkilometern durch die leicht abfallenden Abschnitte des Aichtals. Diesmal fordert nicht nur die mittlerweile einsetzende Hitze ihren Tribut. Auch ein Führungswechsel ist nicht möglich. Klaus Röttgen muss alleine vorne fahren, denn würde ich mich an die Spitze unseres versetzt agierenden Zweierteams begeben, dann würden die Zahlen auf dem Tachometer nach unter streben wie ein Turmspringer im Freibad.

Im Verein wird vieles familienintern entschieden

In Waldenbuch füllt Ulf Müller derweil Wasser in die für erschöpfte Radler aufgestellten Kanister. „Ein Wasseranschluss ist besonders wichtig“, sagt der Vorsitzende des RTC Stuttgart und Lebensgefährte von Elvira Michler über eine ideale Ladestation. In Waldenbuch kommt hinzu, dass sie erfreulicherweise direkt vor den Werkstoren des Schokoladenherstellers Ritter Sport liegt. Anette und Leyla Michler, Schwester und Nichte von Elvira Michler, stapeln deshalb Schokoladentäfelchen zu Dreierpaketen auf. Sie sind Teil des nach gut 80 Kilometern dringen notwendigen Kaloriennachschubs.

Dass ausgerechnet der nur 43 Mitglieder zählende RTC Stuttgart die landesweit erste Radtourenfahrt im Coronajahr veranstaltet, ist für Ulf Müller nicht verwunderlich. „Wir können das schnell und flexibel handhaben“, sagt der 62-Jährige. Im Verein wird vieles familienintern entschieden, denn selbst ein Streckenkontrolleur hört auf den Namen Michler. Der Vereinsmitgründer Jürgen Michler, 79, schwang sich am frühen Sonntagmorgen bereits um sechs Uhr auf seinen Roller, packte zwei Dutzend Wegzeiger mit der rot leuchtenden Aufschrift „RTF“ ein und prüfte die Markierungen. „Gelegentlich wird ein Schild abgerissen“, sagt Ulf Müller, der verhindern will, dass sich Radler auf einer der drei Streckenvarianten verirren.

Klaus Röttgen, an dessen Hinterrad ich mich erfolglos zu halten versuche, ist das nicht passiert. Ein übler Anstieg unter sengender Sonne bei Ruit und schließlich die finale Steilpassage aus dem Neckartal zum Ziel beim TB Untertürkheim rauben mir die letzten Kräfte. Während schlanke Athleten mit Trikots vom Alb-Extrem-Radmarathon an uns vorbeiziehen, hieve ich meine 85 Kilogramm über den virtuellen Zielstrich. Dennoch: Die Strapazen haben sich auf jeden Fall gelohnt. „Es ist die spezielle Faszination, einmal rund um Stuttgart zu fahren“, sagt Klaus Röttgen und spricht mir damit aus der Seele.