Seit 22 Jahren kommentiert Karsten Migels die Tour de France, die er nach wie vor faszinierend findet – allen negativen Schlagzeilen zum Trotz. Titelverteidiger Chris Froome hätte der Radsport-Experte allerdings nicht starten lassen.

Cholet - Seit 22 Jahren kommentiert Karsten Migels die Tour de France, die er nach wie vor faszinierend findet – allen negativen Schlagzeilen zum Trotz. Der Eurosport-Kommentator ist allerdings überzeugt davon, dass die jungen Rad-Profis ein anderes verhältnis zum Thema Doping besitzen.

 
Herr Migels, gibt es jemanden in Deutschland, der mehr Radrennen sieht als Sie?
Das glaube ich nicht.
Wie viele sind es im Jahr?
Ich komme auf rund 200 Renntage – mehr als jeder Radprofi (lacht). Bei 50 bis 60 bin ich live vor Ort, die restlichen kommentiere ich aus einem unserer Studios.
Sie haben den Ruf, die ‚Stimme des Radsports’ in Deutschland zu sein.
Das ehrt mich, ist eine Besonderheit. Aber letztlich nicht entscheidend für meinen Job.
Sondern?
Meine Philosophie ist, den Zuschauern diesen tollen Sport so zu vermitteln, dass sie ihn verstehen und Spaß daran finden.
Entsteht nicht genau aus dieser Herangehensweise der oft geäußerte Vorwurf an Eurosport, die dunklen Seiten des Radsports auszublenden oder schönzureden?
Mag sein.
Es stört sie nicht?
Nein. Unsere Aufgabe ist es selbstverständlich, die Zuschauer auch über das Thema Doping zu informieren. Das tun wir. Aber warum müssen wir jedesmal, wenn etwa Alejandro Valverde im Bild ist, erneut erklären, dass er mal Kunde des Dopingarztes Eufemiano Fuentes und deshalb gesperrt war? Das tun meine Kollegen in der Leichtathletik, im Biathlon oder Fußball doch auch nicht. Oder wird bei jedem Spiel von Manchester City gesagt, dass Trainer Pep Guardiola einst als Spieler positiv auf Nandrolon getestet wurde? Ich bin überzeugt, dass die Zuschauer vor allem Sport sehen und nicht ständig etwas über dessen negative Seiten hören wollen.
Sie sind seit 20 Jahren nahe dran am Peloton. Hat sich in dieser Zeit beim Thema Doping viel verändert?
Definitiv!
Was?
Die neue Fahrergeneration ist anders sozialisiert, hat eine neue Mentalität. Das Tempo in den Rennen ist zwar so hoch wie vor zehn Jahren, das Material aber viel besser geworden. Wenn alle so voll mit Epo wären wie vor zehn Jahren, wären sie wesentlich schneller unterwegs. Was allerdings natürlich nicht heißt, dass es aktuell keine Doper gibt – ich glaube jedoch, dass sich derzeit bei der Tour de France die Mehrzahl der Profis im Bereich des Legitimen bewegt.
Sie absolvieren Ihre 22. Frankreich-Rundfahrt. Müssen Sie sich noch vorbereiten?
Ich habe natürlich ein ganz gutes Grundwissen und dazu ein gutes Archiv. Aber für bestimmte Etappen muss man sich noch mal extra vorbereiten. Und auch auf besondere Fälle – wie zum Beispiel die Salbutamol-Affäre von Chris Froome. Da war bei mir schon noch mal ein Feinschliff nötig.
Wie finden Sie den Freispruch des Radsport-Weltverbandes UCI für Froome?
Schlecht für den Radsport. Es ist doch suspekt und mysteriös, dass es immer noch keine nachvollziehbare Erklärung für seinen erhöhten Wert von diesem Asthmamittel bei der Vuelta 2017 gibt. So lange dieser nicht transparent begründet ist, hätte ich ihn nicht starten lassen. Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als den Freispruch zu akzeptieren.
Leicht fällt Ihnen das aber nicht?
Nein. Denn ich sehe noch einen ganz anderen Aspekt. Wenn Froome wirklich so schlimmes Asthma hat, ist eine Hochleistungsdisziplin wie der Profi-Radsport nichts für ihn. Alle Asthmatiker wissen, wovon ich rede.
Wird Froome die Tour trotzdem zum fünften Mal gewinnen?
Ich hoffe es nicht.
Warum?
Ich schätze ihn für seine Fahrweise, nicht für seinen Fahrstil (lächelt). Aber es ist doch per se schon verdächtig und komisch, wenn immer der selbe Fahrer gewinnt. Die Tour braucht nach all den negativen Vorkommnissen um Chris Froome einen neuen Sieger, deshalb wünsche ich mir persönlich in Paris einen anderen Mann im Gelben Trikot. Am besten einen, der weniger berechnend fährt.
Wen?
Zum Beispiel Geraint Thomas.
Er ist eigentlich der Edelhelfer von Chris Froome bei Sky.
Ich weiß, dafür müsste das Team irgendwann seine Taktik ändern. Aber Thomas ist stark genug, um es schaffen zu können, und er hat sich, was mir gefällt, klar gegen medizinische Ausnahmegenehmigungen zum Beispiel für Asthmatiker ausgesprochen. Diese Haltung finde ich sehr positiv.
Verliert die Tour einen Teil ihrer Faszination, weil so viel über Doping diskutiert wird?
Der Fall Froome ist schlecht für den Radsport, das steht fest. Die Tour ist aus meiner Sicht aber so faszinierend wie eh und je.
Warum?
Es gibt einfach nichts Größeres im Radsport. Wer sie einmal erlebt, setzt sich der Gefahr aus, dieser Faszination für immer zu erliegen. Allerdings ist es nicht einfacher geworden, bei der Tour zu arbeiten – man kommt an die Rennfahrer nur noch schwer heran, und die Entfernungen, die mit dem Auto zurückgelegt werden müssen, sind enorm groß.
Dazu kommt nach dem Wiedereinstieg der ARD in die Live-Berichterstattung vor drei Jahren ein großer Konkurrent auf dem deutschen TV-Markt.
Wir sind keine Konkurrenten, dafür sind unsere Zuschauerschichten zu unterschiedlich. Außerdem können die Kollegen bei den Öffentlich-Rechtlichen, die nur ein oder zwei Rennen pro Jahr kommentieren, gar nicht unser Hintergrundwissen haben. Unterm Strich ist es schön, dass sie wieder da sind, weil sich die Bühne für den Radsport dadurch enorm vergrößert hat.
Fanden Sie den Ausstieg von ARD und ZDF im Jahr 2012 nachvollziehbar?
Nein, ich habe mich sogar darüber geärgert. Aus meiner Sicht ging es damals nicht darum, ein Zeichen gegen Doping zu setzen. Die Sender wollten einfach nur Geld sparen, und dafür haben sie einen Sündenbock gesucht. Ich bin stolz darauf, dass wir bei Eurosport dem Radsport die Stange gehalten haben, als andere abgesprungen sind. Das war die richtige Entscheidung.
Aktuell . . .
. . . ließe sich so ein Ausstieg nicht mehr damit begründen, eine angeblich doping-verseuchte Sportart nicht weiterhin zeigen zu wollen. Sonst dürften ARD und ZDF nach aktuellem Doping-Wissensstand auch keine Leichtathletik, keinen Skilanglauf und kein Biathlon mehr übertragen.
Sie haben Ihre erste Tour de France 1997 an der Seite von Rudi Altig kommentiert. Wie fiel danach die Reaktion der Zuschauer aus?
Sehr schlecht. Shitstorms gab es damals zwar noch nicht, dafür aber haufenweise Beschwerden per Telefon und Brief beim Sender in München. Was für mich im Nachhinein kein Wunder war: Ich bin zwar bis zu einem schweren Sturz ein ganz guter Amateurfahrer gewesen, war aber im Journalismus ein Quereinsteiger – der nicht viel über die Fahrer, Taktik und Zusammenhänge im Profi-Radsport wusste. Die Kritik ging mir seinerzeit sehr nahe.
Wie ist es heute?
Ich weiß, dass meine Stimme und meine Art des Kommentierens nicht jedem gefällt, und dass ich es ohnehin nicht allen recht machen kann. Deshalb sehe ich es etwas distanzierter. Was mich allerdings gewaltig stört, ist die Anonymität, hinter sich viele Leute bei ihrer Kritik verstecken.
Damit haben derzeit auch die Kommentatoren bei der Fußball-WM zu kämpfen.
Das ist noch mal eine ganz andere Liga – Besserwisser gibt es zwar auch im Radsport, aber natürlich nicht in dieser Anzahl. Ich finde absolut respektlos, wie mit den Kollegen umgegangen wird. Wir sind alle nur Menschen, die auch mal Fehler machen. Aber keiner hat es verdient, so fertiggemacht zu werden. Das ist unterste Schublade.
Gibt es im Radsport eine weibliche Kommentatorin?
Ja, eine Eurosport-Kollegin in den Niederlanden. Sie musste vor einem Jahr ähnliche Negativerlebnisse verkraften wie jetzt Fußball-Kommentatorin Claudia Neumann. Das ist ihr sehr schwer gefallen. Sie hat damals von Macho-Radsport-Fans derart auf die Mütze bekommen, dass sie unter Depressionen litt. Das war an Respektlosigkeit nicht zu überbieten.