Wer die Tour de France 2020 gewinnen will, muss Titelverteidiger Egan Bernal abhängen. Das wird nicht einfach: Für den Kletterspezialisten aus Kolumbien spricht nicht nur die vielen extrem schweren Anstiege.

Stuttgart/Nizza - Die Tour de France 2020 ist eine Reise ins Ungewisse. Weil niemand vorhersehen kann, wie sehr das Coronavirus das größte Radrennen der Welt infizieren wird. Und weil es auch sportlich etliche Unwägbarkeiten gibt. Vor dem Start an diesem Samstag in Nizza sind viele Fragen offen: Wer hat während der Corona-Auszeit am besten gearbeitet? Wer ist mental bereit für die Tortur de France? Wem kommt die Strecke entgegen? Wir machen den Favoriten-Check.

 

Egan Bernal ***

Es war ein Bild mit Symbolcharakter. Als Egan Bernal nach dem Corona-Lockout in Madrid aus dem eigens für die kolumbianischen Radprofis gecharteten Flieger stieg, trug er einen besonderen Mundschutz: aufgemalt war eine herausgestreckte Zunge. Ähnlich frech und selbstbewusst hatte er im Sommer 2019 die Tour gewonnen, als jüngster Fahrer seit 1909. Nun ist Bernal (23) der Titelverteidiger – und erneut der Drei-Sterne-Favorit. Nicht nur, weil die Strecke perfekt auf ihn zugeschnitten ist.

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Schon am zweiten Tag geht es von Nizza aus in die Alpen, es folgen: Berge, Berge, Berge (insgesamt 21 Anstiege der zwei höchsten Kategorien) und am vorletzten Tag auch noch ein Bergzeitfahren. Hätte Extremkletterer Bernal den Kurs selbst ausgesucht, er hätte genau so ausgesehen. Dazu kommt, dass sich das Team Ineos (früher: Sky), das sieben der letzten acht Tour-Sieger stellte, auf Bernal als Kapitän festgelegt hat. Seine teaminternen Konkurrenten Geraint Thomas (fährt den Giro) und Chris Froome (fährt die Vuelta) sind nicht dabei, der Kolumbianer erhält die volle Unterstützung, zum Beispiel von Richard Carapaz (Giro-Sieger 2019). Und obwohl Bernal erst 23 Jahre alt ist, spricht sogar die Erfahrung für ihn: Er ist der Einzige im Peloton, der schon mal in Gelb in Paris eingefahren ist. Auch das war ein Bild mit Symbolcharakter.

Primoz Roglic ***

Es ist nicht bekannt, wie oft sich Primoz Roglic über den vorletzten Tag bei der Dauphine-Rundfahrt geärgert hat. Zu vermuten ist: sehr oft. Während Bernal bei der Tour-Generalprobe (angeblich mit Rückenbeschwerden) rechtzeitig ausstieg, stürzte der in Führung liegende Slowene auf einer Harakiri-Abfahrt in den Alpen so schwer, dass er aufgeben musste. Das war vor elf Tagen, und seither gibt es unterschiedliche Aussagen über seinen Fitnesszustand. Klar ist nur soviel: Er wird in Nizza am Start stehen. Und sollte er bei Kräften sein, ist er der größte Gegner für Egan Bernal.

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Roglic (30), der frühere Junioren-Weltmeister im Skispringen, gehört auch auf dem Rad zu den Überfliegern. 2019 gewann er nicht nur die Vuelta, sondern gleich vier der fünf Etappenrennen, an denen er teilgenommen hat. Sein Team Jumbo-Visma muss zwar auf Steven Kruijswijk verzichten (der Tour-Dritte von 2019 brach sich bei der Dauphine die Schulter), ist aber dennoch enorm stark. In Tom Dumoulin (Niederlande) steht sogar ein Top-Rundfahrer parat, der mehr sein könnte als ein Edelhelfer – sollten Roglic sein Sturz und der Ärger darüber doch noch länger beschäftigen als erhofft.

Nairo Quintana **

Der Kolumbianer, der schon den Giro und die Vuelta gewonnen hat, ist in den Bergen daheim. Und er wirkt zudem nach seinem Wechsel zu Arkea-Samsic wie befreit. Im Frühjahr, vor der Corona-Krise, war Quintana (30), der Stärkste, gewann fünf Rennen in einem Monat! Kann er dieses Niveau nun wieder erreichen, ist ihm viel zuzutrauen, zumal es kein längeres, flaches Zeitfahren gibt. Der Kampf gegen die Uhr zählt zu seinen großen Schwächen.

Thibaut Pinot **

Seit 35 Jahren wartet die Grande Nation auf einen Heimsieg bei der Tour de France. Pinot (30) hat die Kletter-Qualitäten, um diese Sehnsucht zu stillen – 2019 siegte er bei der Bergankunft auf dem Pyrenäen-Riesen Tourmalet. Doch er ist auch immer für ein Drama gut. Vor einem Jahr gab Pinot in den Alpen unter Tränen auf, weil das Knie schmerzte. In Paris kam er letztmals 2015 an. Sollte er erneut durchhalten, ist ein Platz auf dem Podium drin. Und vielleicht ja sogar noch mehr.

Emanuel Buchmann *

Das Ziel des besten deutschen Rundfahrers war das Podest in Paris, sogar den ganz großen Coup schloss er nicht aus – vor seinem schweren Sturz bei der Dauphine. Buchmann (27) hat sich zwar nichts gebrochen, doch die Prellungen beeinträchtigten seine Tour-Vorbereitung erheblich. „Der Sturz ist bitter gewesen, weil ich richtig gut in Form war“, sagt der Kapitän des Teams Bora-hansgrohe, „jetzt muss ich abwarten, wie viel Energie mich das Ganze gekostet hat. Mein Ziel bleibt das Podium, aber es gibt noch ein paar Fragezeichen.“ Doch dies gilt nicht nur für Buchmann, sondern für fast alle Favoriten. Und auch für das gesamte Rennen.