Radsport Wie glaubwürdig ist Tadej Pogacar, Herr Aldag?

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Rolf Aldag führte als Sportdirektor von Red Bull-Bora-hansgrohe Florian Lipowitz aufs Tour-Podium. Sein Problem: Am Dominator des Radsports führt kein Weg vorbei.

Die großen Rennen der Saison sind vorbei, die wichtigste Erkenntnis liegt auf der Hand. „Wenn Tadej Pogacar gewinnen will“, sagt Rolf Aldag über den Dominator des Radsports, „dann gewinnt er auch.“ Doch der Ex-Profi, der zuletzt Sportdirektor beim Team Red Bull-Bora-hansgrohe war, hat auch über Florian Lipowitz eine extrem hohe Meinung.

 

Herr Aldag, Sie sind gerade in Südafrika – wegen des Radsports?

Nein. Ich bin hier nordwestlich von Kapstadt mit meiner Familie teilzeitansässig geworden. In den Winelands gibt es zwar tolle Mountainbike- oder Gravel-Strecken, mit meinem Beruf hat unser derzeitiger Aufenthalt aber nichts zu tun.

Sie waren Sportdirektor beim Rennstall Red Bull-Bora-hansgrohe, nach der Tour de France Ende Juli kam es zur Trennung. Was machen Sie jetzt?

Abstand gewinnen, mal durchatmen, mich neu orientieren. Und Dinge erledigen, die 30 Jahre liegengeblieben sind.

Zum Beispiel?

Ich war noch nie in meinem Leben bei Vorsorgeuntersuchungen, das habe ich nun nachgeholt.

Mit guten Ergebnissen?

Für meine Erben eher nicht (lacht).

Der Abschied von Red Bull-Bora-hansgrohe kam plötzlich – auch für Sie?

Für mich war es keine Überraschung. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen, hatten aber unterschiedliche Meinungen über die künftige Ausrichtung des Teams.

Inwiefern?

Als ich vor vier Jahren zu Bora-hansgrohe ging, war das Ziel von Teamchef Ralph Denk und mir klar: Wir wollten eine Mannschaft für die großen Rundfahrten entwickeln. Dann haben wir 2022 mit Jay Hindley den Giro und 2024 mit Primoz Roglic die Vuelta gewonnen und standen 2025 mit Florian Lipowitz auf dem Podium der Tour. Ich würde sagen: Mission erfüllt. Mehr war angesichts der Dominanz von Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard nicht zu machen.

Ralph Denk scheint anderer Meinung zu sein: Er hat Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel aus dem Vertrag gekauft.

Wenn man die Spitze angreifen will, geht das – wenn überhaupt – über die Breite. Es mit Remco Evenepoel, Primoz Roglic und Florian Lipowitz zu versuchen, erfordert ein enormes finanzielles Engagement von Red Bull, und trotzdem wird es unglaublich schwierig, bei den großen Rundfahrten erfolgreicher zu sein, als wir es ohnehin schon waren. Deshalb noch mal: Mein Auftrag ist erledigt.

Wie sehen Sie die Verpflichtung von Remco Evenepoel?

Man darf sie nicht nur mit Blick auf die Grand Tours betrachten. Er ist, abseits von Tadej Pogacar und Mathieu van der Poel, der einzige Radprofi, mit dem ein Team Siege planen kann, weil er der beste Zeitfahrer im Peloton ist. Er bietet Red Bull-Bora-hansgrohe somit eine neue Perspektive, Rennen zu gewinnen, allerdings nicht zwingend die Tour: Wer diesen Sieg sicher haben möchte, müsste – wenn die Gerüchte stimmen – rund 250 Millionen Euro für Tadej Pogacar auf den Tisch blättern, um ihn aus dem Vertrag zu kaufen. Damit erledigen sich alle Spekulationen, zumindest für die nächsten Jahre.

Was heißt das?

In Florian Lipowitz, Giulio Pellizzari und Lorenzo Finn hat Red Bull drei Fahrer mit großem Potenzial für die Ära nach Pogacar unter Vertrag. Das ist langfristig ein enormes Pfund, sofern es gelingt, sie bis 2030 zu halten und ein starkes Team um sie zu bauen.

Florian Lipowitz war schon in diesem Jahr Dritter der Tour de France. Wie überraschend ist diese Leistung für Sie gewesen?

Ich muss John Wakefield großen Respekt zollen. Er ist der Trainer von Florian Lipowitz und hat sich schon vor der Tour – was ein Coach alles andere als gerne macht – darauf festgelegt, dass er ganz sicher unter die ersten fünf und wahrscheinlich unter die besten drei kommen wird. Für unsere Planung war diese Prognose unglaublich hilfreich.

Das müssen Sie näher erläutern.

Uns war klar, was er erreichen kann, weshalb es mir sehr wichtig war, dass er nicht der letzte Helfer von Primoz Roglic ist, sondern an der Seite von Roglic fährt. Zugleich mussten wir ihn vor übergroßen Erwartungen schützen. Deshalb haben wir ihn nicht als Kapitän präsentiert.

An der taktischen Ausrichtung von Ihnen und den anderen Sportlichen Leitern gab es während der Tour viel Kritik. Wurde Lipowitz zu wenig unterstützt?

Ich habe in dieser Zeit Julian Nagelsmann bewundert, der sich mit 80 Millionen Fußball-Fans beschäftigen muss, die es besser wissen als der Bundestrainer. Letztlich ist die Kritik jedoch auch an uns abgetropft, denn nur wir wussten, was intern besprochen war.

Wurden Fehler gemacht?

Natürlich hätte nach außen hin der Zusammenhalt, und sei es nur die moralische Unterstützung, besser sein können. Aber letztlich hat, obwohl nicht alles perfekt war, Platz drei von Florian Lipowitz für sich gesprochen: Mehr war nicht möglich.

Was zeichnet Florian Lipowitz aus?

Seine Unbeschwertheit. Dass er in sich selbst ruht, angstfrei und offen an Dinge herangeht. Die große Unterstützung von Familie und Freunden. Und seine Einstellung. Würde er jeden Samstagabend in einer anderen Show auftreten und hätte ständig PR-Termine in der Öffentlichkeit, würde er den Faden verlieren.

Er war einst Biathlet, fährt erst seit fünf Jahren Radrennen. Hat er Verbesserungspotenzial?

Ganz bestimmt. Er lernt noch, und die Lebenskilometer, die er draufpackt, werden ihm dabei helfen. Allerdings muss ich sagen, dass er trotz der fehlenden Erfahrung technisch auf dem Rad absolute Weltklasse ist. Doch taktisch kann er sich natürlich noch weiterentwickeln, auch wenn es dazu unterschiedliche Sichtweisen gibt.

Welche?

Florian Lipowitz fährt immer offensiv und angriffslustig, so wie es sich die Fans wünschen. Was das Resultat angeht, ist das nicht immer die sinnvollste Taktik, aber wollen wir stattdessen lieber, dass er wie Jonas Vinegaard eiskalt auf Ergebnisse fährt? Ich finde, die Unkalkulierbarkeit steht Florian Lipowitz sehr gut.

Allerdings hat er 2025 kein einziges Rennen gewonnen.

Seine Qualität ist, nicht einige herausragende Tage zu haben, sondern immer konstant da zu sein. Es wird irgendwann Rundfahrten geben, bei denen er in der Kombination der Beste sein und gewinnen wird.

Florian Lipowitz hat dasselbe Problem wie viele andere Radprofis: Sie können nur siegen, wenn Tadej Pogacar nicht am Start steht.

Das stimmt. Er ist mit Abstand der Beste seiner Generation. Wenn er ein Rennen gewinnen will, dann gewinnt er es auch.

Wie sehr hat Tadej Pogacar den Radsport verändert?

Viele Rennen laufen durch seine Solo-Attacken jetzt anders ab, aber ich glaube nicht, dass er den Radsport großartig verändert hat. Er ist nicht der Treiber der Professionalisierung.

Sondern?

Tadej Pogacar setzt keine Maßstäbe, was die Zeit in der Höhe, die Trainingsumfänge oder die Ernährung angeht. Bei ihm steht noch das Nutella-Glas auf dem Frühstückstisch. Er zeigt, dass es auch anders geht, als jedes Gramm Spaghetti abzuwiegen und nur acht Rennen im Jahr zu bestreiten. Er beweist, dass ein Radprofi auch mit Spaß, Motivation und Liebe zu dem, was er tut, supererfolgreich sein kann.

Was macht ihn sonst noch aus?

Eine Kombination aus jugendlicher Frische und Naivität mit brutalstem Talent. Die Fähigkeit, ein Team hinter sich zu vereinen, das bereit ist, alles für ihn zu geben. Und die Qualität, deren Vorarbeit ins Ziel zu bringen, auch wenn es enorm viel Energie kostet. Was er leistet, ist unglaublich.

Gutes Stichwort. Wie glaubwürdig sind seine Leistungen?

Ich hoffe, dass er sauber ist. Wenn er es nicht ist und erwischt werden würde, wäre die Konsequenz der Zusammenbruch des Profiradsports.

Es heißt immer, der Radsport habe sich, was den Dopingbetrug angeht, stark verändert. Stimmt das?

Ja. Eine Systematik wie früher kann es nicht mehr geben, denn der Kampf gegen Doping wird nun ernsthaft geführt, das ist allen Beteiligten im Radsport bewusst.

Sind Leistungen wie von Tadej Pogacar sauber möglich?

Davon gehe ich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine Leistung auf Talent beruht, halte ich für sehr, sehr hoch.

Gilt das auch für andere Fahrer?

Ja, sonst müssten wir alles infrage stellen, denn Tadej Pogacar ist nicht der Einzige, der alte Rekorde bricht, das tun zehn andere auch noch. Aber dafür gibt es Erklärungen: Trainingswissenschaft, Ernährung, Material – der Radsport hat sich enorm entwickelt, das ist eine neue Welt. Ein Silberpfeil von damals wäre in der Formel 1 von heute auch chancenlos.

Macht die Dominanz von Tadej Pogacar den Radsport langweilig?

Für mich nicht, weil ich sie mit anderen Augen sehe als ein Fan, der sich möglichst offene Rennen wünscht. Als Pogacar bei der WM 2024 mehr als 100 Kilometer vor dem Ziel attackiert hat, war ich als Experte sprachlos. Und seine Fahrweise übt auf mich weiterhin eine riesengroße Faszination aus.

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