Auch in Böblingen nutzt eine Gruppe von Radlern eine Sonderregel in der Straßenverkehrsordnung. Sie dürfen selbst bei Rotlicht fahren.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Vor dem Gesetz beginnt die Masse bei der Zahl 16 kritisch zu werden. Wenn sich mehr als 15 Radfahrer zusammentun, gelten sie gemäß der Straßenverkehrsordnung als Verbund. Das hat den Vorteil, dass für diesen allerlei Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt sind. Fährt der erste Radler noch bei grünem Licht über eine Ampel, gilt für alle folgenden: Sie müssen nicht anhalten, wenn die Anlage umschaltet. Einzige Voraussetzung ist neben der Mindestzahl, dass der Verbund nicht zu weit auseinandergerissen sein darf, sondern als Gruppe erkennbar bleibt.

 

Die Sonderregel machen sich Radler bundesweit zunutze – als „critical mass“. Als eine solche kritische Masse touren sie durch Städte. Ursprünglich stammt diese Art der Demonstration fürs Zweirad aus San Francisco. Seither treffen sich unter dem Schlagwort weltweit Radler, auch in Böblingen. Dort ist die kritische Masse aber überschaubar. 25 bis 30 Stammgäste kommen zu den Treffen, die stets am letzten Freitag eines Monats auf dem Elbenplatz sind. „Die Grenze von 15 erreichen wir immer“, sagt der örtliche ADFC-Vorsitzende Roland Schmitt. „Aber insgesamt werden es mehr, wir waren auch schon 50.“ Wichtiger als die Rotlichtregel ist vor Ort, dass für die Gruppe die Pflicht aufgehoben ist, Radwege zu benutzen. Auf zumeist spärlichen Geh- und Radwegstreifen in Böblingen ist zügiges Vorankommen kaum möglich.

Eins der Ziele ist, auf Missstände hinzuweisen

Auf derlei Missstände hinzuweisen ist auch ein Ziel der Critical-mass-Touren. Vorwiegend geht es allerdings darum, Autofahrern zu demonstrieren, dass die Straße nicht ihnen allein gehört, sondern eben auch den Radlern. In Stuttgart treffen sich allmonatlich um die 650 von ihnen. Sie blockieren ganze Bundesstraßen oder lassen Autos minutenlang an Kreuzungen warten – alles legal, denn auch das Gebot, nicht nebeneinander zu fahren, gilt für den Verbund nicht. Eine Klage gegen die Sonderregeln wurde bereits 1989 abgewiesen.

In deutschen Großstädten erreichen die Gruppen durchaus einmal Größen von mehreren Tausend Teilnehmern. In Budapest fuhren im Jahr 2013 mehr als 100 000 Radler geschlossen über die Straßen. Es war die weltweit größte Runde der kritischen Masse. In diesem Sinne haben die Böblinger durchaus noch Plätze frei. Aber auch bei zwei Dutzend Radlern „fahren die letzten schon mal bei Rot über die Ampel und für ein paar Hundert Meter blockieren wir auch mal eine Hauptstraße“, sagt Schmitt. An diesem Freitag führt die Tour nach Sindelfingen, eben der Eigenwerbung wegen. In Herrenberg gibt es eine Critical-mass-Gruppe, in Sindelfingen nicht. Hoffnung auf Wachstum kommt aus Budapest. Auch dort waren die Anfänge bescheiden, mit wenig mehr als hundert Teilnehmern.