Nur zum kleineren Teil geht es beim RAF-Prozess der Bundesanwaltschaft um Verena Becker. Eine Analyse von Stefan Geiger

Stuttgart - Im April 1977 war nach knapp zwei Jahren in Stammheim der quälende Prozess gegen die RAF-Terroristen Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe zu Ende gegangen. Das Verfahren hatte die Justiz an den Rand der Verzweiflung gebracht. Für einen Augenblick schien es so, als ob der Staat den Terroristen unterlegen sei.

 

Das war die Situation, in der die Bundesanwaltschaft entscheiden musste, wie sie mit der am 3. Mai 1977 verhafteten RAF-Terroristin Verena Becker umgehen sollte. Eine Anklagebehörde hat hier einen gewissen Spielraum. Die obersten Ankläger entschieden sich, Becker nur wegen der ihr leicht nachzuweisenden Mordversuche bei ihrer Verhaftung anzuklagen, einen kurzen Prozess anzustreben. Das war eine vertretbare Entscheidung. Es kam, wie die Ankläger wollten. Becker wurde im Dezember 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Natürlich wussten die Bundesanwälte schon damals, dass weitere bereits begangene Straftaten bei einer Verurteilung wegen Mordes eine geringe Bedeutung haben. Lebenslänglich ist (inzwischen) lebenslänglich. Im Strafmaß sind weitere Morde für die Täter gratis. Das hätte auch für eine – nahe liegende – Beteiligung Beckers an der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 gegolten.

Becker kooperierte mit dem Verfassungsschutz

Verena Becker hat sich in der Haft von der RAF abgewandt. 1980 hat die Bundesanwaltschaft die bis dahin noch laufenden Ermittlungen wegen einer Beteiligung an dem Buback-Mord eingestellt. Kurz danach hat Verena Becker mit dem Verfassungsschutz kooperiert und Aussagen zur RAF gemacht. Im November 1989 wurde sie nach zwölf Jahren Haft vom Bundespräsidenten begnadigt. Man muss schon an den Weihnachtsmann glauben, um zu unterstellen, dabei habe ihre Kooperation mit dem Verfassungsschutz keine Rolle gespielt. Formalrechtlich gilt Beckers lebenslange Strafe als voll verbüßt.

Jahrzehnte gingen ins Land. 2007 erschienen Medienberichte über Beckers Kontakte zum Verfassungsschutz, 2008 veröffentlicht Michael Buback, der Sohn von Siegfried Buback, ein Buch, in dem er nahelegt, der Staat habe Becker wegen ihrer Geheimdienstkontakte geschützt; sie könne die Todesschützin seines Vaters sein. Die Bundesanwaltschaft geriet in diesen Monaten heftig unter Druck.

Ein neues Ermittlungsverfahren wurde gegen Becker eröffnet, im August 2009 wurde sie wegen des Verdachts der Mittäterschaft bei der Ermordung Bubacks verhaftet. Im Dezember kam sie frei, weil der Bundesgerichtshof im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft nur den Verdacht der Beihilfe, nicht der Mittäterschaft sah. Man muss auch noch an den Osterhasen glauben, um zu unterstellen, der öffentliche Druck auf die Behörde und die Privatfehde mit dem Buback-Sohn, letztlich also sachfremde Motive, seien nicht zumindest ein Anlass für die Bundesanwaltschaft gewesen, ausgerechnet jetzt eine neue Anklage zu formulieren.

Die Anklage lautete auf Mittäterschaft, nicht auf Beihilfe. Im September 2010 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Er dauert inzwischen fast so lange wie der große Stammheim-Prozess, obwohl diesmal keine bösartigen Verteidiger versuchen, die Justiz lahmzulegen. Man kann schon leise fragen, weshalb?

Keine Sternstunde der Justiz

Das Plädoyer der Bundesanwaltschaft am Prozessende gibt eine Antwort: Die ersten drei Stunden setzen sich die Ankläger nicht mit der Angeklagten, sondern mit den kruden Thesen des Nebenklägers Buback auseinander. Das ist keine Sternstunde der Justiz, nur ein Beleg für Dünnhäutigkeit.

Die Ankläger stützen dann ihre Vorwürfe gegen Becker auf Beweise, die seit Jahrzehnten vorliegen: Die Haag-Mayer-Papiere der RAF seit den achtziger Jahren, die Aussagen des Kronzeugen Peter-Jürgen Boock spätestens seit dessen „Lebensbeichte“ 1992, als er sich nach Überzeugung der Ankläger vom Saulus zum Paulus wandelte. Die jüngst mit neuen Methoden ermittelte DNA Beckers an den Bekennerschreiben spielt im Plädoyer eine völlig untergeordnete Rolle.

In dem mehr als elfstündigen Schlussvortrag der Ankläger ist von Verena Becker vergleichsweise selten die Rede, viel häufiger davon, was all die anderen RAF-Mitglieder damals gemacht haben oder gemacht haben könnten. Das ähnelt einem historischen Seminar. Am Ende rücken die Bundesanwälte von der Mittäterschaft ab, reduzieren auf Beihilfe. Die Ankläger selbst vermuten, dass Becker während und in den Wochen vor der Tat im Nahen Osten war.

Warum werden andere RAF-Mitglieder nicht angeklagt?

Dreh- und Angelpunkt der Anklage ist ein Treffen der RAF Ende 1976. Becker habe sich dort als bedeutende Aktivistin für die Ermordung Bubacks ausgesprochen, so Zweifler zur Tat motiviert, eine „funktionelle Tatherrschaft“ gehabt. An dem Treffen hat freilich nach eigenem Bekunden auch das damals ebenfalls bedeutende RAF-Mitglied Boock teilgenommen. Der und andere mussten sich bisher nicht wegen dieser Tat verantworten.

Die Bundesanwälte verlangen für die Beihilfe viereinhalb Jahre Haft. Becker darf heute nicht schlechter gestellt werden, als sie 1977 mit einem den Buback-Mord einbeziehenden Urteil gestellt worden wäre. Lebenslang ist für die Ankläger nicht lebenslang. Sie unterstellen, dass Becker damals die besondere Schwere der Schuld zuerkannt bekommen hätte.

Deshalb soll sie jetzt zu der offiziell voll verbüßten lebenslangen Haft noch einmal zweieinhalb Jahre einfahren. Das ist knapp oberhalb des Limits, bis zu dem eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Ein Schelm, der daran denkt, dass es Strafprozesse gibt, bei denen allein schon der Aufwand Einfluss auf die geforderte Strafe bekommen kann.