Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Fand die Trauerfeier am 9. September 1978 in einem würdigen Rahmen statt?
Nein. Eigentlich sollte alles geheim bleiben, doch ein Mitarbeiter des Bestattungsinstitutes hat sich von der Presse bestechen lassen. Wir wurden bei der Beerdigung hemmungslos fotografiert, fremde Menschen haben uns wüst beschimpft. Es war die Hölle. Die Leute in unserem nahen Umfeld hier in Vaihingen haben mit uns gelitten. Die wussten ja, dass wir eine anständige schwäbische Handwerkerfamilie sind.
Am 30. Oktober 1974 beteiligt sich Willy Peter Stoll an der Besetzung des Hamburger Büros von Amnesty International, um nachdrücklich auf die aus seiner Sicht unmenschlichen Haftbedingungen von RAF-Terroristen aufmerksam zu machen. Im Jahr darauf schmeißt er einen Molotowcocktail auf das Gebäude der Ärztekammer in Stuttgart. Aus Angst, dass die Flasche in seiner Hand explodieren könnte, wirft er sie zu früh. Sie zerschellt, ohne Schaden anzurichten, an der Hauswand. Ende 76 taucht Stoll ab und schließt sich dem bewaffneten Kampf der RAF an. Er lernt das Handwerk des Tötens.
Warum verwandelte sich Ihr Bruder vom Kriegsdienstverweigerer zum RAF-Krieger?
Ich glaube, er ist da einfach so reingeschlittert. Zunächst setzte er sich lediglich dafür ein, dass die Haftbedingungen für die gefangenen RAF-Mitglieder verbessert werden, es war ja damals viel von „Isolationsfolter“ in der Presse zu lesen. Entscheidend war, dass Willy in der linken Stuttgarter Szene den Anwalt Klaus Croissant kennenlernte. Willy schmiss daraufhin seinen Job als Steuergehilfe hin und arbeitete in Croissants Kanzlei. Ohne diesen Kontakt wäre mein Bruder nicht bei der RAF gelandet.
Haben Sie mit ihm über Politik diskutiert?
Nein, Willy wusste, dass ich mich dafür nicht interessiere und mein Mann ein überzeugter CDUler ist. Jede Diskussion zwischen den beiden wäre in einen Streit ausgeartet, und das wollte keiner von uns. Aber mit unserer jüngeren Schwester Gudrun redete Willy über alles, die beiden waren sich im Denken und Fühlen sehr ähnlich. Sie verfolgten ein soziales Anliegen, aber Gudrun wurde niemals radikal. Bevor Willy in den Untergrund ging, fragte er sie, ob sie mitkomme. Gudrun lehnte ab.
Haben Sie Ihren Bruder zu jener Zeit, als sein Porträtbild bereits auf Fahndungsplakaten hing, noch einmal gesehen?
Ja, zufällig in einem Stuttgarter Autohaus, kurz nachdem in der Fernsehsendung „XY ungelöst“ nach ihm gefahndet wurde. Ich sprach Willy an, und er ließ mich stehen, so als wenn er mich überhaupt nicht kennen würde. Bis zu seinem Tod bin ich oft an unserem Terrassenfenster gestanden, in der Hoffnung, dass er doch noch mal bei uns in Vaihingen vorbeischaut.
Laut späteren Aussagen des RAF-Aussteigers Peter-Jürgen Boock gehört Willy Peter Stoll zum Kommando „Siegfried Hauser“, das am 5. September 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt. Um 17.28 Uhr eröffnen vier Terroristen in der Kölner Vincenz-Statz-Straße das Feuer. Schleyers Fahrer Heinz Marcisz wird sofort tödlich getroffen. Dann springt Stoll auf die Kühlerhaube des Begleitfahrzeugs und verfeuert die Munition seiner Maschinenpistole. Im Kugelhagel sterben die Personenschützer Helmut Ulmer, Reinhold Brändle und Roland Pieler. Sechs Wochen später wird auch die Geisel Schleyer erschossen.
Die deutsche Justiz nimmt heute an, dass Ihr Bruder für den Tod mehrerer Menschen mitverantwortlich ist. Teilen Sie diese Ansicht?
Ich möchte gerne glauben, dass Willy nichts Schlimmes getan hat, muss aber akzeptieren, dass er möglicherweise ein Mörder war. Mich tröstet, dass seine Schuld nicht bewiesen ist.