Unser Kolumnist schreibt heute an den Juchtenkäfer, der im Mittleren Schlossgarten lebt und vom Ausssterben bedroht ist.

Lieber Juchtenkäfer!

Düster erinnere ich mich an eine Zeit, in der Käfer noch keine Lobby besaßen. Forscher spießten sie auf Nadeln auf, Autokonzerne betrieben Namensmissbrauch. In Afrika mussten Pillendreher ihre Dungkugeln 24 Stunden am Tag im Abfallwirtschaftsdienst durch die Savanne schieben. Käfer wie dieser arbeiteten zu Tarifen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, es gab keinen bezahlten Urlaub und keine Elternzeit in den Puppenstuben.

Das, lieber Juchtenkäfer, hat sich glücklicherweise geändert. Den Durchbruch brachte Anfang der 80erJahre eine Neue-Deutsche-Welle-Hymne der Band Gänsehaut. Die Band prangerte die rücksichtslosen Feldzüge der gemeinen Planierraupe gegen einen traurigen Käfer namens Karl an: "Mit scharfer Axt fällt man Baum um Baum, zerstört damit seinen Lebensraum. Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hat ihn einfach fortgejagt."

Dies droht nun angeblich auch Dir, lieber Juchtenkäfer. Gerüchten zufolge lebst Du im Mittleren Schlossgarten ausgerechnet in jenen Bäumen, die dem neuen Tiefbahnhof im Weg stehen. Weil Du aber auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten stehst, bist Du für die Bahn ein Albtraum auf sechs Beinen.

Gefechtslage ist unübersichtlich


Die derzeitige Gefechtslage an der Stuttgarter Käferfront ist völlig unübersichtlich. Aktivisten von Robin Wood haben in den Parkbäumen eine Krabbelgruppe eröffnet. Erste Käfer bilden bereits Arbeitsgruppen, in denen sie über Anhydrit, Schnellbahntrassen und die Leistungsfähigkeit von K 21 diskutieren.

Unterdessen strecken auch die Befürworter des neuen Tiefbahnhofs ihre Fühler nach dem Thema aus. Sie verweisen darauf, dass ihnen erst kürzlich ein wertvolles Exemplar des sogenannten Erklärkäfers (Scarabaeus discutans) entlaufen sei. Er hatte sich in seinem natürlichen Habitat nicht mehr wohlgefühlt, weil ihm der Lärm artverwandter Genossen unerträglich erschien. Dem Vernehmen nach, plant die Bahn nun ein neues Exemplar anzusiedeln. Du, lieber Juchtenkäfer, hast dabei wohl keine guten Chancen.

Mit freundlichen Grüßen,Erik Raidt