Der Krieg liefert den Stoff für die wichtigsten Romane dieses Frühjahrs: Ralf Rothmanns „Der Gott jenes Sommers“ erzählt von den Ereignissen der letzten Tage des Naziregimes und knüpft an die Vatergeschichte seines vorigen Buchs an.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Lange ist es her, dass die Künste ihren Stoff einmal aus dem Sagenkreis rund um den Trojanischen Krieg bezogen haben, um darauf eine Kultur der Humanität zu gründen. Der Zweite Weltkrieg indes fungiert als ein unerschöpflicher Speicher für Geschichten, die um die im Unaussprechlichen verhallende Frage kreisen, wie diese Kultur vor die Hunde gehen konnte. Die besten Romane dieses Frühjahrs sprechen nämlich eine andere Sprache als diejenigen, die meinen, zur deutschen Vergangenheit sei alles gesagt. Sie handeln vom Krieg. Und je ungenierter die Sachwalter des Vergessens aus ewiggestrigen Sümpfen ihr „genug“ quaken, um den historischen Sinn zu umnebeln, desto schärfer die Bilder, mit denen die Literatur das Entschwindende ins Gedächtnis ruft.

 

Die Randzone erweist sich dabei als fruchtbarer Blickwinkel. Arno Geiger hat in diesem Jahr den Anfang gemacht. Sein Roman „Unter der Drachenwand“ erzählt von einem an der Ostfront verletzten Soldaten, der im letzten Kriegsjahr einen mehrmonatigen Erholungsurlaub am Mondsee im Salzkammergut bewilligt bekommt und aus der Distanz die unfassbare Gleichzeitigkeit von Leben, Liebe, Tod und unvorstellbaren Verbrechen erfährt. Der französische Autor Eric Vuillard zeigt in der „Tagesordnung“ Miniaturen aus den Hinterzimmern der Macht und enthüllt die nationalsozialistische Herrschaft als gigantischen und brutalen Bluff. Und welch hoffnungslose Odyssee einem Menschen in Deutschland bevorstand, wenn ein rotes J für Jude in den Reisepass gestempelt war, führt Alexander Boschwitz’ jetzt erstmals auf Deutsch erschienener Roman von 1938, „Der Reisende“, vor Augen.

Alkohol und betäubende Lust

Bereits vor drei Jahren ist der Ruhrgebietschronist Ralf Rothmann durch den Erinnerungsstollen seiner Familie gestiegen und hat dort die Geschichte seines Vaters geborgen, der in den letzten Kriegsmonaten in die Waffen-SS gezwungen wurde. „Im Frühling sterben“ war die Tragödie eines jungen Mannes, der ohne Schuld zum Mörder seines besten Freundes wurde. Nun wagt sich Rothmann abermals hinab, um eine Seitenader der in den Tiefen des Gedächtnisses eingeschlossenen Geschichte auszubeuten.

Bei einer seiner Lesungen begegnete der Autor einer Frau, die ihm erzählte, als junges Mädchen in seinen Vater verliebt gewesen zu sein, ebenjenen jungen Melker im sogenannten Reichsnährstand, den der Krieg im vorigen Roman vom Abel zum Kain gemacht hat. Dieses Mädchen steht im Mittelpunkt des neuen Romans „Der Gott jenes Sommers“. Es ist die letzte Kriegsphase, die die Zwölfjährige mit ihrer Mutter und Schwester auf einem Gutshof in der Nähe des ausgebombten Kiel verbringt. Ein Teil der Familie glaubt entgegen der sich nähernden Einschläge weiter an den Endsieg, der andere nutzt fatalistisch die Privilegien der Verwandtschaft mit einem SS-Offizier, um sich die eigene Schuld und die letzten Tage des „Tausendjährigen Reichs“ mit Alkohol und betäubender Lust erträglich zu machen. Während die ältere Schwester alles tut, BDM auf Bund Deutscher Matratzen zu reimen, flüchtet sich die Zwölfjährige vor den auflösenden Verhältnissen und den erwachenden Trieben in Bücher – und in die scheue Neigung zu jenem Melker, dessen leicht heisere Stimme die Härchen auf ihren Armen bewegte, als liefe ein Insekt darüber. Über die gemeinsam erlebte Geburt eines Kälbchens gelangt die Schwärmerei jedoch nicht hinaus, bis der Angebetete eingezogen wird, um – wie die Leser des vorigen Romans wissen – seine Unschuld zu verlieren. Die des Mädchens hingegen wird kein Raub herandrängender asiatischer Horden, der Iwans, sondern ihres totenkopfdekorierten Schwagers.

Düstere Heiligenlegende

Vieles bekommt sie zu sehen, ohne es wirklich zu verstehen: vor dem gegenüberliegenden Waldrand die von einem Wachturm überragten Baracken mit Gräben, in denen unzählige Menschen arbeiten; die Frostkristalle auf der Scheibe ihres Dachfensters, durch die sich das in der Ferne brennende Kiel abzeichnet; die geschwollenen Hände des Vaters mit den gereinigten Nägeln und den ersten Altersflecken, deren nach vorn gekehrte Rücken die Ellbogen leicht abstehen lassen, wie sie es im Leben nie getan haben.

Man könnte Anstoß nehmen an den atmosphärisch gesättigten Genrebildern, mit denen Rothmann das Zwischenreich von Herrenmenschenalltag und Barbarei ausmalt. Und überhaupt: Wer erzählt hier? Im vorigen Roman beglaubigte eine tiefe Teilhabe am Leben der Väter, was nicht selbst erlebt worden ist. Hier dagegen blüht die Vorstellungskraft auf eigenem Grund, doch genau darin liegt nun eine eigene Kraft, die über die stupende Virtuosität der Einfühlung hinauswächst. Denn diese dem Bösen entsprießenden Blumen wenden sich nicht dem Licht bewährter Allgemeinplätze zu. Rothmann buchstabiert keine Haltungen aus und weigert sich, seine Figuren zu Bedeutungsträgern zu machen, die auf dem schwarz-weißen Schachbrett der Diskurse und Debatten nach Belieben hin und her gezogen werden können.

„Der Gott jenes Sommers“ ist kein Bravourstück im historischen Fach, sondern eine düstere säkulare Heiligenlegende. In den Hyperrealismus der Erzählung sind ja auch Passagen eines anderen Tons eingefügt, der Bericht eines Schreibers aus dem Dreißigjährigen Krieg. Er handelt von der fitzcarraldohaften Verschiffung einer Kapelle über einen See, um den Gräueln des Kriegs ein ohnmächtiges Zeichen entgegenzusetzen. Noch im Scheitern, dem buchstäblichen Untergang, behauptet es sich gegen die Sinnlosigkeit: „Uns bleibt die vage Hoffnung, dass unser Leben zumindest beim Herrn einen Sinn ergibt, einen goldenen gar, auch wenn das Werk des Feuereifers zertrümmert wie ein Prunzscherben im Schlamme liegt.“

Auch der Weg des jungen Mädchens wird einen Verlauf nehmen, der sie aus den unwiderruflichen Schrecken des Erlebten hinausführt. Und vielleicht ist dieser Roman ja selbst eine Kapelle – und Rothmanns Erzählkunst geleitet sie über den Ozean der Zeit, um sie all denen zu weihen, deren Hoffnungen und Glück für immer darin versunken sind.

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers.
Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin. 254 Seiten, 22 Euro.