Eine Entführung, rätselhafte schöne Frauen, durchgeknallte Aristokraten und ein turbulenter Showdown: Ralph Dutlis Roman „Die Liebenden von Mantua ist durch die Spannung von wohlgefügter Oberfläche und brodelndem Untergrund beherrscht.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Liebe und Tod – man muss schon ganz schön gebildet sein, will man als Autor dieser elementaren Paarung neue Perspektiven abgewinnen. Gut also, bei dieser Geschichte jemanden wie Ralph Dutli an seiner Seite zu wissen, einen Autor, der sich in den kulturgeschichtlichen Verästelungen des Bienenstaats ebenso gut auskennt wie in der Nonsens-Poesie des Mittelalters – oder im Straßengewinkel von Mantua. Statt auf vielbegangene Allgemeinplätze führt er den Leser auf die zugegeben auch nicht eben wenig frequentierte Piazza Mantegna der oberitalienischen Kunstmetropole, in ein Straßencafé, in dem sich gerade zwei alte Bekannte zufällig wiederbegegnen, ein Seismologe und ein Romancier. Jener erforscht die unruhigen Kräfte im Inneren der Erde, dieser die eruptiven Beben der Seele.

 

Wie die Interessengebiete der beiden Freunde ist auch Dutlis neuer Roman „Die Liebenden von Mantua“ durch die Spannung von wohlgefügter Oberfläche und brodelndem Untergrund beherrscht. Denn was sich in dem Café anbahnt ist nichts anderes als ein veritabler Krimi mit allem, was dazugehört: einer Entführung, rätselhaften schönen Frauen, durchgeknallten Aristokraten und einem turbulenten Showdown. Doch unter diesem schnittigen Handlungsbogen wogt und gärt ein Reich der Leidenschaft. Es umfasst die Liebe, die Menschen miteinander verbindet, aber auch die Liebe zu Kunst und Literatur, die Lust an der Sprache, die Feier der Schönheit, der Renaissance und des Geschmacks italienischen Speiseeises.

Piercings und Tätowierungen

Doch bevor man sich in diesen Zonen verliert, kann man den Blick vom Straßencafé aus noch eine Weile schweifen lassen. Denn dieses Buch ist nicht nur reich an Gelehrsamkeit, sondern auch an einer Fülle äußerst konziser Alltagsbeobachtungen, die der Essayist Dutli dem gleichnamigen Romancier zugeflüstert hat: Wir begegnen „posthumanen“, kollektiv vernetzten Subjekten an den anderen Tischen („alle haben sie den Blick auf ihr Streichel- und Zupfplättchen gesenkt, selbst wenn sie sich gegenübersitzen und vielleicht zu einer lange verabredeten Redseligkeit gekommen sind“), wir staunen über Piercings, „diese Einsprengsel von Schrotthalde unter der warmen Hand“ oder über den „universellen Hautauschlag“ der Tätowierungen, einer epidemisch um sich greifenden farbigen „Weltlepra“.

Das zentrale Exempel der Liebe aber ist dem Schoß der Erde entsprungen. Es sind die Skelette einer Frau und eines Mannes, die im Jahr 2007 in inniger, sechstausend Jahre währender Umarmung gefunden worden sind. „Als hätte alle zarte Liebe der Welt sich in diesem Paar verkörpern und Symbol werden wollen für alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Liebenden.“ Heute umschlingen sich die beiden in der archäologischen Peep-Show eines der vielen Mantuaner Museen. Im Roman jedoch hat sie vorübergehend ein sonderbarer Graf in seine Gewalt gebracht, samt jenem Autor, den wir zu Beginn in dem Straßen-Café kennen gelernt haben. Der nämlich hatte vor, die liebenden Jungsteinzeitler zum Gegenstand eines Romans zu machen. Der spinnerte Graf wiederum möchte sie in den Mittelpunkt einer neu zu gründenden Religion der Liebe stellen. Einer Religion, die ihren Namen wirklich verdient und im Zeichen inniger Verschlungenheit das ewige Folterbild des Gekreuzigten aus der Welt fegen soll. Der entführte Autor soll zum Evangelisten der neuen Frohbotschaft werden, dass man des Paradieses nicht im Jenseits teilhaftig wird, sondern nur im erfüllten, geteilten Diesseits zweier Liebender.

Liebeserklärung an die Renaissance

Leider teilt der Religionsstifter mit vielen seiner Kollegen die unangenehme Eigenschaft, dass er seine spirituellen Ziele mit Gewalt verfolgt. Alle Religionen enden früher oder später in grässlichen Blutbädern, heißt es einmal. Und der Graf ist auf dem besten Weg dahin. Dabei dreht sich hier alles darum, dem Tod und der Vergänglichkeit etwas entgegenzusetzen. Alle, die in diesem Roman auftreten, haben einen gravierenden Verlust erlitten. Ihre Geliebten sind verschwunden, haben sich umgebracht oder wurden ermordet. Wie aber lässt sich die Liebe dem Tod wieder abringen?

Man könnte nun sagen durch die Kunst. Dutlis Buch ist eine feurige Liebeserklärung an die Renaissancemaler Andrea Mantegna und Giulio Romano, an Vergil, Bergson, die Kabbala, Amor und Psyche, Romeo und Julia – ja an den Roman selbst, der da im Begriff ist zu entstehen. Mit dem, was der Romancier hier ausschüttet, ließen sich mehrere Monografien bestreiten. Unter der Fülle des Stoffes ächzt bisweilen die Anlage gewaltig, so dass stellenweise gar nicht sicher ist, mit was man es hier eigentlich zu tun hat: mit einem Essay in Romanform oder umgekehrt.

Alles kommuniziert, alles kopuliert

Doch Bella Italia alleine reicht nicht. Auch die Kunst kann sterben. Aus ihren ursprünglichen Bezügen gerissen ruht sie in Museen, eingesargt in Konventionen der Wertschätzung, umlagert von den endlosen Prozessionen touristischen Totenkults. Und so wie die Handelnden versuchen, ihren je erlittenen Verlust wieder rückgängig zu machen, so erzählt Dutli gegen das erbauliche Schweigen erstarrten kanonisierten Kulturguts an.

Mit allen Mitteln werden die schönen Hinterlassenschaften beschworen, um sie zum Sprechen zu bringen. Wobei dem Romancier und Essayisten nicht selten der Lyriker zu Hilfe eilt, um die magischen Potenzen der Sprache für das hohe Werk zu nutzen. Alles kommuniziert miteinander, Silben, Mythen, Theorien, alles kopuliert miteinander. Das Buch wird zum Medium einer Vereinigung, die Zufall, Zeit und Tod entgeht. So erweist sich am Ende nicht der nekrophile Liebeskult des Grafen als die Religion, die dem Gott Eros huldigt, sondern die Philologie. Aus skelettierten archäologischen Tatsachen lässt sie das sinnliche Fleisch der Bedeutung auferstehen.

Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua. Roman. Wallstein Verlag. 276 Seiten, 19.90 Euro.