Nach dem Tod von George Floyd gibt es auch Proteste über Polizeigewalt in Frankreich. Die Schriftstellerin Virginie Despentes prangert in einem offenen Brief den Rassismus in ihrem Land an.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Paris - Virginie Despentes beginnt ihren offenen Brief mit einem Hinterhalt. „Wir in Frankreich sind keine Rassisten“, schreibt die französische Schriftstellerin – und man ist gewillt, zu nicken. „Aber ich erinnere mich nicht, je einen schwarzen Minister gesehen zu haben.“ Da schnappt die Falle zu! Despentes stellt die gefühlte Wahrheit gegen die Wirklichkeit – und da klafft in vielen Fällen eine abgrundtiefe Lücke. Aus diesem Grund überschreibt sie ihren Text, den der Sender „France Inter“ veröffentlicht hat: „Brief an meine weißen Freunde, die nicht wissen, wo das Problem liegt …“. Wobei die Schriftstellerin durch einige einfache Fehler ihren Gegnern Angriffsfläche bietet. So war etwa Christiane Taubira, geboren in Französisch-Guyana, vor einigen Jahren Justizministerin und die aktuelle Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye stammt aus dem Senegal.

 

Furor über die tiefe Ungerechtigkeit

Aus jeder ihrer Zeilen aber spricht der Furor über eine Gesellschaft, die sich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf die Fahne geschrieben hat und doch jeden Tag sehenden Auges zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten geschehen lässt. Angestachelt wird ihre Wut dadurch, dass angesichts des brutalen Todes von George Floyd in Minneapolis auch in Frankreich eine empörte Diskussion über Polizeigewalt vor allem gegenüber Schwarzen stattfindet – und von vielen Franzosen ignoriert wird, dass in ihrem eigenen Land wenn nicht dieselben, so doch ähnliche Probleme zu finden sind.

Deswegen bezieht sich Virginie Despentes in ihrem offenen Brief nicht auf den Tod von George Floyd im den fernen USA, sondern auf Adama Traoré, ein junger, farbiger Franzose, der 2016 in Polizeigewahrsam gestorbenen ist. Seine Schwester Assa hatte am Dienstag zu einer großen Demonstration in Paris aufgerufen - Zehntausende gingen auf die Straße. Der Fall weist Parallelen zum gewaltsamen Tod von George Floyd auf. Die Anwälte der Familie sagen, Polizisten hätten Traoré zu Boden gedrückt und ihm die Luft abgeschnitten. Gutachten der Justiz machen eine Herzerkrankung für den Tod verantwortlich.

Weiße wollen keine Rassisten sein

Virginie Despentes klagt auch an, dass die schwarzen Franzosen von der weißen Mehrheitsgesellschaft immer wieder für ihre Misere selbst verantwortlich gemacht wurden. Man sei kein Rassist, schreibt die 50-Jährige, wenn man betone, dass während der Corona-Krise die Todesrate in dem berüchtigten Pariser Banlieue Seine Saint Denis sechzig Mal höher lag als im Landesdurchschnitt. Man erlaube sich, zu sagen, „das ist eben so, weil sie sich schlecht verhalten“. Doch niemand fragt nach, unter welchen Lebensbedingungen die Familien in den engen Hochhausgettos leben.

Weiße haben Privilegien – ohne es zu merken

Die Autorin, bekannt durch den Roman „Baise-moi – Fick mich“ und die Trilogie Vernon Subutex, schreibt weiter: „Ich kann nicht vergessen, dass ich eine Frau bin. Aber ich kann vergessen, dass ich weiß bin.“ Wer nicht weiß sei, habe diese Wahl in Frankreich nicht. Sie könne jeden Tag ohne Ausweis das Haus verlassen, bemerke die Polizei in der Stadt gar nicht. Aber: „Das letzte Mal, als ich um meine Papiere gebeten wurde, war ich mit einem Araber unterwegs.“

Virginie Despentes liefert keine Lösungsansätze, sie schleudert ihren Landsleuten ein wütendes Pamphlet ins Gesicht. Aus ihr spricht eine lange aufgestaute Wut. Es ist die Wut über die soziale Ungerechtigkeit im Land, die bereits die Gelbwesten in Frankreich auf die Straße getrieben hat. Es ist die Wut, die den Protest vieler Frauen angesichts der oft ungesühnten Gewalt von Männern gegenüber ihren Partnerinnen befeuert hat. Und es ist die Wut über den alltäglichen Rassismus in Frankreich. Und es ist vor allem die Wut gegenüber einer saturierten und ignoranten Gesellschaft, die in diesen Ungerechtigkeiten kein Problem sehen will.