Wer etwas über die Flüchtigkeit der Dinge lernen will, muss nur mal die Fundecke einer durchschnittlichen Stuttgarter Grundschule aufsuchen. Zum Beispiel während des Schulsommerfestes: Während auf dem Schulhof jene Eltern, die mit halbwegs ordentlichen Kindern davongekommen sind, entspannt Hugo schlürfen, rotten sich an diesem müffelnden, dunklen Ort unter der Treppe jene zusammen, deren Töchter und Söhne ständig alles liegen lassen. Sie graben sich durch Gebirge von T-Shirts, Schuhen, Mützen, Schals, Vesperboxen, Trinkflaschen, Turnbeuteln . . . Hin und wieder hört man kurze, durch eine Schicht ungewaschener Socken gedämpfte Aufschreie: „Ah! . . . Nein, doch nicht!“ – „Juhu, ich hab es!“ – „Ein mumifiziertes Pausenbrot!“ – „So doof, den ganzen Ranzen zu vergessen, ist mein Sohn immerhin nicht!“
Anders formuliert: Hier geht es um die großen Menschheitsthemen. Hoffnung und Enttäuschung, Besitz und Verlust, Wiederfinden und Abschiednehmen. Und um eines der letzten Mysterien: Warum finden wir immer nur, was keiner vermisst, während das, was wir ersehnen, niemals auftaucht?
Kinder und was sie alles verlieren – das ist ein großes, anekdotenreiches Thema. Im Gedächtnis bleibt der Tag, an dem der Sohn bei minus zehn Grad ohne Jacke aus der Schule heimkam – ohne etwas zu bemerken. Oder als der Tochter innerhalb von 48 Stunden drei Mützen, zwei Handschuhe und ein Schal abhandenkamen. Auch vom Gegenwert der liegen gelassenen Trinkflaschen könnte man mittlerweile einen Wochenendtrip oder einen Kaschmirmantel für die Mutter finanzieren, mindestens. Wobei manche Trinkgefäße durchaus wieder auftauchten, nur leider ohne Deckel oder kaputt, weil sie in der Zwischenzeit von den anderen Kindern als Fußball benutzt wurden.
Der Mäppcheninhalt, eine Textaufgabe
Überhaupt herrscht in der Familie ein ständiger Warenan- und -abfluss. Der Mäppcheninhalt zum Beispiel gleicht einer unlösbaren Textaufgabe, die ungefähr so geht: Wenn du an einem Tag vier Stifte verlierst, dafür am nächsten zwei vom Sitznachbarn einpackst und den fehlenden Radiergummi durch ein wiedergefundenes Lineal und eine auslaufende Uhu-Flasche ersetzt – wie viele Kappen hat dein Tintenkiller dann noch?
Wobei ja nicht nur aushäusig Verlust droht, auch zu Hause werden ununterbrochen Dinge gesucht. All diese Playmobil- und Legokleinteile, die immer irgendwo sind, nur nie im dazugehörigen Bausatz. Unvergessen der Urlaub, den die Eltern damit verbrachten, auf allen vieren durch die Ferienwohnung zu kriechen und nach den zehennagelgroßen Geschossen des Ninjago-Fliegers zu suchen – während der damals vierjährige Sohn einen Wutanfall nach dem anderen bekam. Oder dieser eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Kegel im Zug beim Familienausflug nach Leipzig. Er schlug auf dem Blaugrau des ICE-Bodens auf und rollte in Richtung der nächsten Sitzreihe. Dann verlor sich seine Spur für immer.
Feiern die Dinge irgendwo eine Party?
Und während man also den Großteil seiner Elternexistenz mit der Suche nach irgendetwas verbringt, fantasiert man so vor sich hin. Dass man sich die schwarzen Löcher im Universum wohl als interstellare Grundschule vorstellen muss. Dass der Kapitalismus in der Kita ein Kraftfeld installiert hat, in dem sich die Dinge entmaterialisieren, damit der Konsument sisyphosgleich ununterbrochen neue kauft. Und dass es ganz sicher irgendwo einen geheimen Ort gibt, an dem der verschwundene Kinderkram eine wilde Party feiert – wobei die ausgelassenste und größte Gruppe aus Haarspängelchen und -bändern besteht, deren Verweildauer vom Auspacken bis zum Verlieren maximal zwei Stunden beträgt.
Die Philosophen-Mütter und -Väter denken vielleicht auch an Heraklit und die menschliche Existenz als ewiges Zusammenballen und wieder Auseinanderdriften im Strom der Atome. Panta Rhei – alles fließt, nichts bleibt, nicht mal die Vesperbox.
Ordnung ist auch Typsache
Aber jetzt mal ernsthaft! Wer das Problem nicht nur philosophisch angehen will, befragt die Experten. Anruf also bei der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) und bei Dorothea Jung, die die Onlineberatung für Eltern leitet. Ja, sagt Dorothea Jung, das mit dem Verlieren, das würden wohl alle Familien kennen – wobei sich die Menschheit eben auch in zwei Teile spalte: in jene, die ordentlich sind. Und die anderen. Das bleibe ein Leben lang so, weshalb sie dazu rät, zunächst das eigene Verhalten zu hinterfragen. Denn: „Kinder lernen durch Vorbilder!“ Wenn also Vater oder Mutter selbst ständig Schlüssel, Sonnenbrillen, wichtige Dokumente sucht, muss man sich nicht wundern, dass der Nachwuchs diese Schusseligkeit übernimmt.
Wie sorgsam ein Kind mit seinem Besitz umgeht, sei nicht nur typ-, sondern auch altersabhängig, sagt Jung. Die Aufmerksamkeit von Kindergartenkindern wechsele schnell. Sie sind leicht ablenkbar und könnten sich nicht immer gleich darauf konzentrieren, was alles in den Rucksack muss. Auch später gebe es Phasen, in denen auf Kinder viel einströme, etwa beim Wechsel von der Kita in die Schule, von der Grund- auf die weiterführende Schule, sodass sie überfordert sein könnten, auf alles zu achten.
Feste Plätze für Dinge
Dennoch sollten Eltern Kinder von klein auf einbeziehen ins Ordnunghalten. Also zusammen mit ihnen den Rucksack an der Kita-Garderobe packen, die Sandelsachen auf dem Spielplatz einräumen oder zu Hause das Chaos lichten. „Am besten führt man Ordnungssysteme ein, also verschiedene feste Kisten und Plätze, in und an die bestimmte Spielsachen kommen“, sagt Dorothea Jung.
Auch zu Beginn der Schulzeit können Mütter und Väter noch beim Ranzenpacken helfen, damit das Kind lernt, es selbst zu tun. Gleichzeitig könne man ab dem Grundschulalter erwarten, dass der Nachwuchs nach und nach selbst auf seine Dinge achtet.
Nichts hinterhertragen
Wenn etwas verloren geht, ist es laut Dorothea Jung wichtig, dass das Kind die Chance bekommt, es wieder zu finden, indem es sucht, die Betreuer fragt, in der Fundgrube nachsieht. Außerdem kann man mit ihm feste Plätze für Dinge vereinbaren, an die diese gepackt werden, nachdem sie benutzt wurden. Also etwa die Trinkflasche immer in die rechte Außentasche stecken.
Bleiben viele Dinge dauerhaft verschwunden, müsste der kleine Schussel die Konsequenzen spüren: „Eltern sollten keinesfalls stoisch einfach alles nachkaufen“, sagt Jung. Sie rät dazu, das Kind zum Beispiel mit einem kleinen Betrag aus seinem Taschengeld mitzahlen zu lassen. Kinder würden außerdem mehr auf Dinge achten, die ihnen wichtig sind und gefallen. „Man könnte die Trinkflasche also mit ihnen gemeinsam aussuchen“, sagt Jung. Für die Expertin können Eltern einen großen Fehler machen: „Den Kinder alles hinterzutragen.“ Wenn also die Vesperbox oder die Hausis daheim liegen bleiben, sollten Eltern sie auf keinen Fall in die Schule bringen. Und ebenso wenig sollten sie im Klassenzimmer selbst nach verlorenen Dingen suchen.
Hugo trinken!
Was Dorothea Jung also von den Umtrieben der Eltern am Schulsommerfest unter der Treppe hält, kann man sich denken. Weshalb das nächste Mal gilt: Hände aus der Fundgrube, Hugo kippen! Das Leben ist ja doch so flüchtig wie die Trinkflasche eines neunjährigen Grundschülers.
Onlineberatung
Experten
Die Onlineberatung für Eltern der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE) berät Eltern zu Erziehungsfragen: www.bke.de.