Alexander Gerst startet am Mittwoch zur Raumstation. Er ist der dritte Deutsche an Bord, und der elfte deutsche Astronaut im All seit Sigmund Jähn.

Köln - Die Spannung vor dem Abflug, so scheint es, kann Alexander Gerst nichts anhaben. Im Gegenteil: der Abschied vom Astronautentrainingszentrum der Esa in Köln-Porz erleichtert den Wissenschaftler auch ein bisschen: „Je näher der Start rückt, desto entspannter werde ich“, sagte Gerst, als er an seinem letzten Tag vor der Abreise zwei Dutzend hektischen Journalisten Rede und Antwort stand. „Jetzt kommt die Zeit, in der ich es endlich genießen kann.“

 

Ein wenig Aufregung werde sich zwar beim Start nicht vermeiden lassen, sagt Gerst. Trotzdem überwiegt für ihn ein ganz anderes Gefühl: Endlich muss er nicht mehr befürchten, dass noch etwas dazwischenkommt. Wenn er am Mittwoch am Weltraumbahnhof Baikonur in den Raumanzug steigt, zur Rampe fährt, neben seinen Crewkollegen in der Sojus-Kapsel festgeschnallt wird und beim Countdown die Kraft der 26 Millionen PS starken Triebwerke spürt, gibt es kein Zurück mehr. Angst habe er keine: „Angst ist etwas, das sich entwickelt, wenn man die Kontrolle zu verlieren glaubt“, sagt Gerst, der Fallschirmspringen und Tauchen zu seinen liebsten Beschäftigungen zählt. Training, meint er, lasse diese Angst gar nicht erst aufkommen. Die Wirklichkeit wohl auch: Astronauten, die schon geflogen seien, sagt er, wären erstaunt gewesen, wie wenig unterwegs passiert – verglichen mit all den Simulationen davor.

Der Blick auf den blauen Planeten lockt

Sechs Stunden wird die Reise von Baikonur zur ISS dauern, die mit einer Geschwindigkeit von 27 000 Stundenkilometern ihre Bahn um die Erde zieht. Sollte das verkürzte, aufgrund der notwendigen Präzision schwierigere Andockmanöver auch dieses Mal schiefgehen wie schon im März, müssen sich die Astronauten gedulden und zwei Tage zusätzlich in der engen Kapsel ausharren. Doch dann kommt der Moment, in dem sich Alexander Gersts größter Traum erfüllt: Nach der Begrüßung kann er endlich, wie viele Ankömmlinge vor ihm, aus der Aussichtskuppel der Station einen Blick auf die Erde werfen.

Jeder Tag an Bord der ISS bringt 15 Sonnenunter- und -aufgänge, etwa 93 Minuten dauert eine Erdumrundung. „Blue dot“ hat er die Mission genannt, also blauer Punkt – nach Carl Sagans Kommentar zu dem berühmten Foto, das die Sonde Voyager einst von der Erde machte. Gersts Abstand zur Erde ist zwar nicht so groß, dass er sie als Punkt sieht, sondern eher als bildfüllende gekrümmte Fläche. Aber für diesen Anblick von außen nimmt er die Reise auf sich.

Den Alltag kennzeichnet ernüchternd viel Unbequemlichkeit

Den Alltag eines Astronauten kennzeichnet der Widerspruch zwischen erhabenen Momenten wie diesem und ernüchternd viel Unbequemlichkeit. Das hat auch Alexander Gerst erfahren. Viereinhalb Jahre Training hat der 38-Jährige hinter sich – das Neunfache der Zeit, die er an Bord der Raumstation (International Space Station, kurz ISS) leben und arbeiten wird. Er hat während dieser Zeit abwechselnd in Houston, im Astronautenzentrum in Köln-Porz und im Sternenstädtchen bei Moskau gewohnt und überall nur ein paar Wochen verbracht. Ein Leben aus dem Koffer, drei Paar Laufschuhe auf drei Kontinenten.

Den Retro-Charme des Sternenstädtchens hat er genossen – er konnte im gleichen Schwimmbad seine Runden ziehen wie einst Juri Gagarin. Ein Höhepunkt anderer Art waren die fünf Tage, die er mit seinen beiden Crew-Kollegen Reid Wiseman und Maxim Surejew in der sibirischen Tundra verbracht hat, um sich auf Notfälle nach der Landung der Kapsel vorzubereiten. Seine Fangemeinde auf Twitter hat er daran teilhaben lassen, als sei es ein Lausbubenausflug. Das härteste überhaupt, sagt Gerst gern schmunzelnd, sei der dreimonatige Crashkurs in Russisch gewesen.

Wichtigstes Experiment: der Levitator

„Ich würde diese Sache gegen keinen Lottogewinn der Welt eintauschen“, sagt er. Dabei ist offenbar selbst er gelegentlich ermüdet. Die Arbeit am Boden macht den größten Teil der Zeit aus, nicht die Mission selbst. Es braucht Geduld, bis man berufen wird. Geduld, wenn man die Ersatzcrew spielt – und Geduld auch auf den letzten Metern, wenn viel Zeit für die Medien reserviert ist. Die Begeisterung von Kindern, schreibt Gerst in seinem Blog zur Mission, habe ihm dann den Kern der Sache wieder in Erinnerung gerufen: den Traum, der ihn begleitete, seit sein Großvater mit ihm am Funkgerät saß und auf das Echo der ins All geschickten Botschaft wartete. Vielleicht freut sich Gerst deshalb auch besonders auf ein Schülerexperiment, das aus einem Wettbewerb hervorging. Dabei geht es um die Frage, ob Seifenblasen im All unsterblich sind, weil dort die Schwerkraft nicht an ihrer Hülle zerrt.

Es ist nur eines von insgesamt 162 Experimenten, die Gerst betreuen wird. Von besonderer Bedeutung ist auch der elektromagnetische Levitator, eine Art Hochofen im Miniaturformat. Gerst wird diesen Ofen an Bord der ISS einbauen. Darin sollen verschiedene Legierungen getestet und auf ihre Eigenschaften untersucht werden. Weil die geschmolzenen Legierungsklumpen in der Schwerelosigkeit nirgends anhaften, erhoffen sich die Forscher neue Erkenntnisse. Die Legierungen könnten später genauso als Beschichtung bei Turbinenschaufeln zum Einsatz kommen wie in Hüftgelenken.

Multimediale Präsenz gehört zum Alltag der Astronauten

Doch auch an Bord wird Gerst sich nicht ausschließlich der Forschung widmen können. Er wird mindestens ein Zehntel seiner Zeit mit Öffentlichkeitsarbeit verbringen – er wird twittern, bloggen und Live-Schaltungen moderieren. Fast alle Kollegen aus seiner Astronautenklasse sind multimedial präsent – und reagieren auch auf direkte Anfragen aus den sozialen Netzwerken. Der letzte Außenbordeinsatz vor wenigen Wochen wurde komplett live übertragen.

Das Interesse am elften deutschen Astronauten ist groß. Und es ist wichtig für die Esa. Die Amerikaner hatten sich im Januar dafür ausgesprochen, die Station über die vereinbarte Betriebszeit hinaus noch mindestens vier weitere Jahre zu betreiben. Technisch möglich wären sogar acht zusätzliche Jahre. Ob die Europäer sich daran beteiligen, ist noch offen – sie werden sich spätestens im Dezember bei der Ministerkonferenz der Esa-Mitgliedstaaten erklären müssen. Vieles spricht dafür, doch das Geld ist knapp. Die Russen wollen dagegen künftig eigene Wege gehen, genau wie die Chinesen, die bereits eine kleine eigene Station betreiben und seit Jahren zielstrebig auf eine große hinarbeiten.

Im Alltag an Bord, sagte Gerst im April, werde der politische Konflikt um die Ukraine keine Rolle spielen: „Alle wissen, was sie an diesem einzigartigen Projekt haben“, betont er und erinnert an das historische Andockmanöver zwischen Sojus und Skylab 1975. Auch damals demonstrierten Astronauten während politischer Konflikte Einigkeit – von beiden Seiten gewollt. Gut möglich, dass Gerst, Surejew und Wiseman also noch zu mehr Diplomatentum gezwungen sein werden, als sie vermuten.