Stuttgarter Forscher koordinieren ein internationales Team, das sich mit Problemen des Wiedereintritts befasst. Der kontrollierte Absturz des europäischen Raumtransporters hätte ein ideales Studienobjekt sein können.

Stuttgart - Irgendwo am Horizont über dem Südpazifik wäre in der Nacht zum 27. Februar ein neuer Stern aufgegangen. Immer größer und heller wäre er auf die DC-8 zugekommen und einen langen Schweif nach sich ziehend an dem Flugzeug vorbeigeflogen, um dann, wie bei einem Feuerwerk, in leuchtende Funken zu zerspringen. Ein spektakulärer Anblick wäre das gewesen. Mit Sternschnuppenromantik aber hätte die Beobachtung vom Flugzeug aus nichts zu tun gehabt. Trotzdem war es ein harter Schlag für Stefan Löhle, als er direkt nach der Ankunft im Flight Research Center im amerikanischen Palmdale am Dienstagabend erfahren musste: Aus der Mission wird nichts.

 

Eine internationale Truppe

Stefan Löhle ist Koordinator eines internationalen Beobachtungsprogrammes: Mit seinem Team von der Arbeitsgruppe zur Diagnostik hochenergetischer Strömungen am Institut für Luft- und Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart war er ausgerückt, um den kontrollierten Absturz des ATV-5 Versorgungsmoduls aufzuzeichnen. Bei dem leuchtenden Studienobjekt handelt es sich also um einen Transportcontainer auf der Rückreise – voll gestopft mit Müll von der Internationalen Raumstation ISS. Am Dienstag hatte das Automated Transfer Vehicle (ATV) dort abgedockt. Dreizehn Tage später hätte es fachgerecht entsorgt werden sollen: indem es beim flachen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglüht wäre.

Doch ein Defekt kurz vor dem Abdocken der Kapsel hatte Teile der Stromversorgung des ATV beschädigt. Aus Sicherheitsgründen musste ein Notfallprogramm gestartet werden, das zu einem bewährten, steileren Wiedereintritt führt – und damit die Stuttgarter Beobachter enttäuscht zurücklässt. „Wir versuchen es zwar mit Galgenhumor“, sagt Stefan Löhle, „aber es wird eine Weile dauern, bis wir das hier verdaut haben. Wir haben ein ganzes Jahr an Arbeit in die Mission gesteckt.“

Seit dem Jahr 2000 beherbergt die ISS Raumfahrer aus aller Welt. Seit einigen Jahren werden sie zum Teil von den ATV-Missionen mit Nachschub versorgt. Mit dem fünften ATV-Modul namens „George Lemaître“, das Ende Juli letzten Jahres von einer Ariane-5-Rakete in die Umlaufbahn gebracht wurde, geht die Serie nun zu Ende – die Astronauten werden ihre Ausrüstung künftig etwa von den russischen Progress-Raumschiffen oder der privat betriebenen amerikanischen Dragon-Kapsel des US- Unternehmens Space X erhalten.

Größer als ein Doppeldeckerbus ist das ATV-5. Nachdem das über 20 Tonnen schwere Modul auf seiner Trägerrakete bis in die obere Atmosphäre gebracht wurde, fand es seinen Weg bis zur ISS auf rund 415 Kilometer Höhe dank eigener Triebwerke und verschiedener Navigationssysteme auf den Zentimeter genau – ein voll automatisiertes Transportvehikel eben, ein Wunderwerk der Raumfahrttechnik. Und trotzdem ein Wegwerfprodukt. Ein Recycling der ATV-Teile ist nicht vorgesehen; das Verglühen in der Atmosphäre ist schlicht kostengünstiger. Doch auch in den letzten drei Minuten seines Lebens hätte es noch wertvolle Erkenntnisse liefern können.

Denn bei seinem Absturz war für das fünfte ATV ursprünglich ein anderer Weg geplant als für seine Vorgänger. Der sogenannte „shallow reentry“ sah eine flachere Flugbahn für den Wiedereintritt in die untere Atmosphäre vor. Einerseits war das als Probelauf für die ISS gedacht – wenn die Raumstation irgendwann nach dem Jahr 2024 endgültig ausgedient hat, soll sie auf einer ähnlich flachen Flugbahn entsorgt werden. Und wie genau ein solch riesiges Objekt unter diesen Umständen in seine Einzelteile explodiert, war bisher nie untersucht worden. Zum anderen wollten die Wissenschaftler Lösungen für ein immer größer werdendes Problem finden: den Weltraumschrott.

Wenn Trümmer auf die Erde fallen

„Es ist ja immer mehr Schrott da oben“, erklärt Stefan Löhle. Vor allem in den rund 1000 Kilometern oberhalb der ISS tummeln sich vermehrt ausgediente Satelliten oder Raketenteile. Wie die Raumstation werden auch sie durch die Reibung mit der dünnen Restatmosphäre immer weiter abgebremst – und fallen irgendwann vom Himmel. „Wenn der Schrott aber zur falschen Zeit am falschen Ort herunterkommt besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass Trümmerteile auch bewohnte Gebiete treffen“, sagt Löhle. Er betitelt das Forschungsfeld zur Weltraumschrottvermeidung prägnant als „die Erfindung des Grünen Punktes im All“. Satelliten könnten in Zukunft aus Materialien zusammengesetzt werden, die beim Atmosphäreneintritt mit Sicherheit vollständig verglühen.

Um eben diese Wiedereintrittsprozesse besser zu verstehen, sollte das ATV genau beobachtet werden. Alle Parameter waren genauestens berechnet: Der Transporter sollte östlich von Australien die Grenze zwischen Weltraum und Erdatmosphäre passieren, die per Definition bei rund 120 Kilometer Höhe liegt, er sollte über Neuseeland hinwegfliegen und kurz darauf in 70 bis 85 Kilometer Höhe in mehrere Einzelteile explodieren – die dann in der menschenleeren SPOUA ins Meer gefallen wären, der sogenannten South Pacific Ocean Uninhabited Area. Die Daten waren bekannt, weil ein solcher Absturz, die Explosion und sogar die Größe und die Anzahl der entstehenden Einzelteile gut berechnet werden können. Aber unter anderem im Hinblick auf die Schrottproblematik müssen die Berechnungen immer feiner justiert werden. Die Messungen an Bord des Flugzeuges hätten geholfen, die Berechnungen im Nachhinein zu verifizieren.

Stefan Löhle und seine drei Stuttgarter Kollegen wollten den Wiedereintritt mit verschiedenen Spektrometern beobachten, Details zur Explosion des ATV aufzeichnen und die Flugkurven der Einzelteile nachverfolgen. „Uns ist ein genialer Testfall abhandengekommen“, sagt der Wissenschaftler. Zwar tauchen die Trümmer des ATV-5 nun am 15. Februar fast an der gleichen Stelle in den Pazifik, doch das Auseinanderbrechen in Einzelteile auf dieser speziellen Flugbahn lässt sich vielleicht erst wieder in ein paar Jahren studieren, eventuell am japanischen HTV-Modul.

Immerhin nehmen die Stuttgarter einige Erkenntnisse mit nach Hause, wie sie die nächste Expedition noch besser organisieren. „Wir haben die Instrumente jetzt viel cleverer angeordnet als früher, und die ganze internationale Koordination hat hervorragend funktioniert“, sagt Löhle. Das Team aus Stuttgart ist bereit – es fehlt nur das nächste dicke Ding, das vom Himmel fällt.