Nach der Parlamentswahl in der Türkei ist die Enttäuschung unter den Aleviten und Kurden in Stuttgart groß. Andere wollen nun einen Schlussstrich unter die Spannungen in dem Land ziehen.

Stuttgart - Eigentlich hätte es eine Siegesfeier werden sollen. Am Ende aber ist für Yücel Yesilyurt ein Trauerspiel daraus geworden. 200 Aleviten haben sich am Sonntag im Kulturzentrum an der Glockenstraße in Bad Cannstatt vor einer großen Leinwand versammelt, um die Hochrechnungen gemeinsam zu verfolgen. „Wir sind schnell zu einem kleinen Häuflein geschrumpft. Die Enttäuschung war zu groß, die Leute sind nach Hause gegangen“, erzählt der Vorsitzende der alevitischen Gemeinde in Stuttgart. Auch einen Tag später kann Yesilyurt das Ergebnis der Parlamentswahl in der Türkei noch immer kaum fassen: „Das ist ein Schlag in die Nieren“, sagt der Stuttgarter, der darauf gehofft hatte, dass die prokurdische HDP noch einmal an Stimmen zulegen würde. Stattdessen aber ist es der AKP, der Partei des türkischen Präsidenten Erdogan gelungen, die absolute Mehrheit zurückzugewinnen. „Auch Turgut Öker von der HDP, den wir als Abgeordneten für Deutschland unterstützt haben, hat es nicht mehr ins Parlament geschafft“, so Yesilyurt resigniert.

 

Türken konnten auch in Zuffenhausen wählen

Gewählt werden konnte zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten eben nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland. Bis zum 25. Oktober hatte das türkische Generalkonsulat in Stuttgart ein Wahllokal in der Lorenzstraße in Zuffenhausen eingerichtet. Wahlberechtigt waren 143 000 in Württemberg lebende Türken. Ihre Stimme abgegeben haben 66 118 Männer und Frauen, das entspricht einer Wahlbeteiligung von 46,3 Prozent. „Die Türken in Deutschland und den anderen europäischen Ländern haben Gewicht“, sagt denn auch Gökay Sofuoglu, einer von zwei Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Der 53-Jährige mahnt nach der Wahl zur Mäßigung: „Das Volk hat gesprochen. Wir müssen das Wahlergebnis akzeptieren. Ich hoffe, dass sich die Türkei jetzt wieder mehr in Richtung Europa bewegt.“ Positiv ist aus Sicht von Sofuoglu, dass durch die Möglichkeit, auch in Deutschland zu wählen, alle türkischen Parteien die Deutschlandtürken stärker in den Blick genommen haben. So habe beispielsweise die AKP versprochen, die Gebühren für die Befreiung vom Militärdienst von derzeit 6000 Euro auf 1000 Euro zu senken. Auch ein monatlicher Kinderzuschlag für in Deutschland lebende türkische Familien habe zum Wahlprogramm der AKP gehört. „Ich bin gespannt, wie viele der Wahlversprechen tatsächlich umgesetzt werden“, sagt der Fellbacher.

Sindelfingerin feiert in der AKP-Parteizentrale in Ankara

Die Sindelfingerin Özlem Demirel ist sich sicher, dass die Wahlversprechen gehalten werden. Die 30-Jährige gehört zur Union europäisch-türkischer Demokraten, die in den vergangenen Monaten in der Region Stuttgart für die Partei von Recep Tayyip Erdogan geworben hat. Demirel ist seit einer Woche in Ankara. Die Wahlnacht hat sie in der Parteizentrale der AKP in der türkischen Hauptstadt verbracht und ist in ihrer Begeisterung nicht zu bremsen. „Wir haben getanzt, gesungen und gefeiert. Das ist hier eine viel ausgelassener Atmosphäre als in Deutschland“, schwärmt die Sindelfingerin. Sie hofft darauf, dass die Spannungen, die sich vor der Wahl in Deutschland zwischen den AKP-Anhängern und den prokurdischen HDP-Getreuen aufgebaut haben, wieder abklingen werden. „Wir haben eine demokratische Entscheidung vorliegen. Es darf keine Anfeindungen mehr geben“, so die 30-Jährige.

Anfeindungen gegeben hat es auch am Wahlabend in Stuttgart. Nach Angaben der Polizei sind vereinzelt Steine auf den Autokorso der AKP-Anhänger geflogen. Die Polizei nahm elf Personen in Gewahrsam, darunter auch ein Mann, der ein Verkehrszeichen auf die teilweise gesperrte Theodor-Heuss-Straße geworfen hatte.

Auch Turan Tekin, der Wahlkampf für die HDP gemacht hat, hofft auf ein Ende der Aggressivität. Sein persönliches Fazit aber ist ein anderes: „Ich werde zwar weiterhin für die HDP kämpfen, mich aber mehr an der deutschen Politik beteiligen.“ Der Alevit Yücel Yesilyurt kommt nach der Schlappe der HDP zu einem ähnlichen Schluss: „Unsere erste Heimat ist eben doch Deutschland, unsere zweite die Türkei. Hier genießen Aleviten Religionsfreiheit, in der Türkei auch weiterhin nicht.“