Der Sieg der EU-Gegner sendet Schockwellen durch Europa. In der deutschen Politik dominiert die Trauer – nur die Linkspartei sieht das Votum auch als Chance, während die AfD jubelt.

Berlin - Mit Bedauern und Entsetzen haben deutsche Politiker am frühen Morgen auf das Brexit-Votum in Großbritannien reagiert. „Damn“, verdammt, teilte Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel über den Kurznachrichtendienst Twitter mit, dies sei „ein schlechter Tag für Europa“. Frank-Walter Steinmeier äußerte sich in Berlin ganz ähnlich. „Die Nachrichten aus Großbritannien sind wahrlich ernüchternd“, so der Bundesaußenminister: „Es sieht nach einem traurigen Tag für Europa und Großbritannien aus.“ Sein Stellvertreter, der Europastaatssekretär Michael Roth, sieht angesichts der bereits erhobenen Forderung nach einem weiteren Austrittsreferendum beispielsweise in den Niederlanden die Gefahr, dass die Europäische Union nun auseinander fallen könnte: „Wir dürfen jetzt Europa nicht den Nationalisten zum Fraß vorwerfen“, teilte der SPD-Politiker mit, sondern „müssen an einem besseren Europa arbeiten“.

 

„Ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht“, sagte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU): „Europa wird jetzt zusammenstehen. Gemeinsam müssen wir das Beste aus der Entscheidung unserer britischen Freunde machen.“ Die Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Dorothee Bär von der CSU, zeigte sich „tieftraurig“ und sprach von einem „schwarzen Tag“.

Simone Peter als Bundeschefin der Grünen sprach gegenüber dieser Zeitung von einer „Schocknachricht“: „Mich bestürzt vor allem, dass es ein Votum vor allem der älteren Wähler war, die der Jugend in Großbritannien ein Stück ihrer Zukunft geraubt haben“, so Peter: „Wir dürfen die Idee von Europa nun nicht aufgeben, sondern müssen uns erst Recht dafür einsetzen, Europa sozialer, demokratischer und bürgernäher zu machen.“

Warnung vor Aktionismus

Als Reaktion auf das Austrittsvotum der Briten kommt Außenminister Steinmeier heute in Luxemburg mit seinen Amtskollegen aus den weiteren fünf Gründungsstaaten der Gemeinschaft zusammen, um das weitere Vorgehen zu beraten. In Brüssel gibt es eine Krisensitzung der EU-Spitzen, nach der eine offizielle Erklärung erwartet wird. Sondersitzungen des Bundestages sowie des Europaparlaments sind für nächste Woche beantragt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird sich im Laufe des Tages zu den Konsequenzen aus der britischen Abstimmung äußern. In ihrem Umfeld wurde gegenüber dieser Zeitung jedoch bereits vor hektischem Aktionismus gewarnt: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Die Bundesregierung will um 10 Uhr den Deutschen Bundestag in einer Sondersitzung des Europaausschusses über das nun anstehende Prozedere informieren – laut EU-Vertrag muss nun innerhalb von maximal zwei Jahren eine Art „Scheidungsvertrag“ ausgehandelt werden, doch gibt es bereits Stimmen, die angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen eine zügige Beratung fordern. „Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen“, sagte Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Wirtschaftsforschungs-Instituts ifo: „Dazu gehört es, sicherzustellen, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt; es ist wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibt.“

In den meisten Parteien wurde gefordert, nun die Europäische Union grundlegend zu reformieren – allerdings mit ganz unterschiedlichem Zungenschlag. „Wir müssen jetzt das Momentum nutzen, um Europa besser zu machen“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Die beiden Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, wiederum teilten mit, dass „EU-Technokraten und ihre neoliberale Austeritätspolitik Europa-Skepsis und Nationalismus den Boden bereitet haben“. Mit dem britischen „No“ werde jedoch andererseits „die historische Chance eröffnet, den Menschen in Europa ihre Stimme zurückzugeben“.

Einzig die Alternative für Deutschland (AfD) begrüßte das Abstimmungsergebnis. „Der 23. Juni ist ein historischer Tag“, teilte die stellvertretende Bundesvorsitzende Beatrix von Storch mit: „Es ist der Unabhängigkeitstag Großbritanniens.“