Was hat Ex-Minister Norbert Blüm mit Ex-Richter Dieter Reicherter gemein? Beide haben kritische Bücher über die Justiz im Land geschrieben. Sie werden lebhaft diskutiert, nur nicht vom Justizminister: Rainer Stickelberger will sich zum Inhalt nicht äußern.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Rainer Stickelberger (SPD) war glatt überfragt. Wie sei es eigentlich um das Vertrauen in die Justiz bestellt, wenn selbst ein ehemaliger Bundesminister wie Norbert Blüm (CDU) als Buchautor mit ihr abrechne? Er kenne Blüms Buch („Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten“) nicht und könne daher nichts dazu sagen, antwortete der Landesjustizminister unlängst vor Journalisten.

 

Dabei war das ausdrücklich als „Polemik“ bezeichnete Werk damals schon einige Monate auf dem Markt und hatte erhebliche Wellen geschlagen. Für seine Befunde erntete der 80-jährige Blüm dankbaren Zuspruch und erbosten Protest. Bei Fernseh-Talkshows oder Podiumsdiskussionen prallten die Ansichten hart aufeinander, die Rezensionen reichten von wohlwollender Aufnahme bis zu scharfen Verrissen. Das Buch aber verkaufte sich bestens: Binnen kurzem musste der Verlag eine zweite Auflage drucken, mehr als 30 000 Exemplare wurden bereits abgesetzt.

Negativ-Beispiele auch aus dem Südwesten

Nur an Stickelberger war der Wirbel komplett vorübergegangen. Dabei hätte gerade der baden-württembergische Ressortchef Grund, sich damit zu beschäftigen. Anlass für Blüms Abrechnung nämlich waren Erfahrungen von Angehörigen von ihm mit der Rechtspflege in Freiburg, also der südbadischen Heimat des SPD-Mannes. Ein Verfahren vor dem Familiengericht, wo er diese „wehrlos den Launen eines Richters und der Skrupellosigkeit eines Gegenanwalts ausgesetzt“ sah, hatte ihn derart empört, dass er sich näher mit der Justiz beschäftigte – und „über die Verlotterung der dritten Gewalt“ erschrak.

Auf 254 Seiten lässt der Nicht-Jurist Blüm („Von Justiz verstehe ich zwischen wenig und nichts“), der aus höherer Warte urteilt, die Leser teilhaben an seinem „schrecklichen Erwachen“. Perdu sei sein ehrfürchtiger „Kinderglauben“ an die Rechtsprechung, seit ihm seine Recherchen die Augen geöffnet hätten. Was er erblickte, war eine Jurisdiktion, die „niemandem rechenschaftspflichtig zu sein scheint außer sich selbst“, waren selbstgefällige Richter, die wenig Interesse an der Wahrheit zeigten und Anwälte, die nach Belieben das Recht verdrehten. Fast ohne Kontrolle agierten die Gerichte, ihrer Abgehobenheit könne man nur mit öffentlichen Diskussionen beikommen. Sein Bild untermauerte der Autor mit zahlreichen Einzelfällen, auch aus Baden-Württemberg – etwa jenem des Justizopfers Harry Wörz oder dem Verfahren gegen LBBW-Manager, wo er die Einstellung gegen Geldauflagen als „Freikauf“ wertet. Ein langjähriger exponierter Vertreter des Rechtsstaats zieht so über diesen her – das gab es wohl noch selten.

Kein Kommentar zum Inhalt der Bücher

Im Stuttgarter Justizministerium ist „das Erscheinen“ des Buches immerhin bekannt, wie ein Ressortsprecher mitteilte. Gleiches gelte für die in Stickelbergers Amtszeit erschienenen Bücher, die sich kritisch mit der Justiz in Baden-Württemberg auseinandersetzen. Co-Autor beider Werke, zur „politischen Justiz in unserem Land“ (Vorwort: Ex-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, SPD ) und zum Wasserwerfer-Prozess, ist ein Jurist, der ein ähnliches Erweckungserlebnis wie Blüm hinter sich hat: der einstige Vorsitzende Richter am Landgericht Dieter Reicherter, dem seine Erfahrungen beim Polizeieinsatz im Schlossgarten die Augen öffneten. Es sei „kein neues Phänomen“, dass sich die Justiz mitunter der Kritik der Öffentlichkeit ausgesetzt sehe, lässt der Minister ausrichten. „Selbstverständlich stellt sich die Justiz jederzeit solcher Kritik.“ Doch den Inhalt der Bücher könne man „nicht im Einzelnen kommentieren oder bewerten.“ Begründung: keine.

Ausgewichen war Stickelberger auch der allgemeinen Frage, ob es einen Unterschied zwischen dem Recht und der „Rechtswirklichkeit“ gebe, also zwischen Anspruch und Realität der Justiz. „Rechtswirklichkeit“ – diesen Begriff hatte der Präsident des Staatsgerichtshofs, Eberhard Stilz, kürzlich in seinem privat erstatteten Gutachten für die Deutsche Bank verwendet, als es ums Agieren von Staatsanwälten ging. Von „Rechtswirklichkeit“ spricht auch der Freiburger Richter Thomas Schulte-Kellinghaus, der sich inzwischen in dritter Instanz gegen eine Ermahnung wegen zu gründlichen und daher langsamen Arbeitens wehrt. Die Bürger glaubten ja, bei der Rechtsanwendung gehe es um einen „reinen Erkenntnisakt.“ Tatsächlich seien richterliche Entscheidungen „oft auch Willensentscheidungen“, was für die Betroffenen nicht leicht verständlich sei. Der Justizminister aber wollte zur „Rechtswirklichkeit“ nichts sagen: Es sei nicht sein Begriff, daher kommentiere er ihn auch nicht.

Die angekratzte Autorität der Justiz

Diskussionsbereiter und meinungsfreudiger als der Minister zeigen sich, jedenfalls im Fall Blüms, andere Vertreter der Rechtspflege. Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, ging mit dem Buch des Ex-Ministers unerbittlich ins Gericht: Es handele sich um eine „unstrukturierte Abfolge von Beschimpfungen und Behauptungen“, schrieb er in einem Zeitungsbeitrag. Deutschlands Rechtssystem sei „in den Händen einer faulen, selbstgefälligen, menschenfeindlichen Bande von Ignoranten“? Gewiss mache die Justiz Fehler und tue sich zuweilen mit deren Korrektur schwer. Aber bei Blüm fehlten die Gegenbeispiele vieler Tausender, die sich nach besten Kräften ums Recht mühten, monierte Fischer. Mehr Differenzierung wurde auch auf einem Podium in Freiburg angemahnt, wo Blüm mit Schulte-Kellinghaus und dem Ex-Bundesrichter Wolfgang Neskovic diskutierte. In einigen Punkten gaben ihm die Juristen aber auch recht. Manche Richter etwa wollten nur den Fall vom Tisch bekommen und sähen nicht die Menschen dahinter.

Sogar der von Blüm scharf angegriffene Präsident der Rechtsanwaltskammer Freiburg, Michael Krenzler, stellte sich seinem Kritiker. Die Diskussion in Karlsruhe krankte laut Teilnehmern indes daran, dass der Ex-Minister gerne über einen konkreten Fall gesprochen hatte – was der Anwalt aber nicht durfte. Anschließend hätten die gut hundert Zuhörer reihenweise von ihren eigenen, schlechten Erfahrungen mit der Justiz berichtet. Ihm liefen neuerdings „immer mehr am Recht Verzweifelte oder Gescheiterte über den Weg“, berichtete Blüm schon in seinem Buch. Ähnliches beobachtet der frühere BGH-Präsident Karlmann Geiß. „Die Autorität der Justiz wurde noch nie so kritisch hinterfragt wie heute“, sagte er der „Südwestpresse“ anlässlich seines 80. Geburtstags Ende Mai. Die Gerichte arbeiteten wohl nicht anders als früher, aber die Sicht darauf sei eine andere.

Keine Diskussion mit Ex-Richter Reicherter

Für eine Diskussion mit dem Ex-Richter Reicherter über den Wasserwerfer-Prozess war Minister Stickelberger indes nicht zu gewinnen. Es werde „kein Vertreter“ seines Hauses teilnehmen, ließ er ausrichten, der Veranstaltung aber zugleich „gutes Gelingen“ wünschen. Ob er derlei Runden aus terminlichen oder grundsätzlichen Gründen fernbleibe – diese Frage der StZ blieb unbeantwortet. Allgemein aber gab das Ressort gerne Auskunft. „Wir setzen auf eine offene, transparente und bürgernahe Justiz, die auch in der Lage ist, im fairen Austausch sachliche Kritik anzunehmen“, hieß es. Dabei habe man „ein offenes Ohr für die konstruktiven Bemerkungen der Bürgerinnen und Bürger ebenso wie für die nutzbringenden Äußerungen in den Medien“. Dass man sich vor der Öffentlichkeit nicht verstecke, zeige das vor vielen Jahren geschaffene Amt des Bürgerreferenten im Ministerium und das aktuelle Bekenntnis, die Medienöffentlichkeit in Gerichtsverhandlungen moderat zu erweitern. Insgesamt, so Stickelbergers Fazit, bleibe die Justiz also nicht „im Hier und Jetzt stehen“, sondern sei „bereit, gesellschaftliche Veränderungen und berechtigte Erwartungen der Öffentlichkeit aufzugreifen“.