Die Schreckenstat in Graz weckt auch Erinnerungen in Winnenden: Tobias Sellmaier, Vorsitzender des Vereins für Präventionsarbeit, spricht über seine Gedanken und Gefühle.
Der 11. März 2009, an dem ein Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden Amok lief, „hat mein Leben mitgeprägt“, sagt Tobias Sellmaier. Er macht sich seitdem für Präventionsarbeit stark. Wir haben mit ihm angesichts des Amoklaufs an einer Schule in Graz gesprochen, welche Gedanken ihm hochkommen und welche Rolle die Prävention einnimmt.
Herr Sellmaier, was empfinden Sie, wenn Sie die Nachrichten und Bilder von Graz sehen?
Wenn ich die Berichte in den Medien sehe, dann beobachte ich, dass leider sehr häufig der gleiche Fehler gemacht wird, wie es auch bei der Berichterstattung über Winnenden geschehen ist. Der Täter wird in den Mittelpunkt gerückt und damit heroisiert. Damals wurden dann noch verschiedene Waffentypen vorgestellt. Das geht aus meiner Sicht in die falsche Richtung. Es sollte viel mehr darum gehen, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Solch eine Tat betrifft nicht nur die Schüler und die Lehrkräfte. Das zieht ganz weite Kreise. Der ganze Ort ist gelähmt.
Sie kennen viele Familien persönlich, die durch den Amoklauf in Winnenden betroffen waren und einen geliebten Menschen verloren haben. Was löst die Tat von Graz mit diesem persönlichen Hintergrund aus?
Meine Tochter war zu dem Zeitpunkt in der 2. Klasse der Grundschule Weiler zum Stein und acht Jahre alt. Dennoch hat sie damals alles mitbekommen: wie die kleine Schwester einer Getöteten die Nachricht aufgefasst hat und wir alle geschockt waren. Der Friedhof lag direkt neben unserem Wohnhaus, dort hat meine Tochter Pia jeden Tag an den Gräbern die Kerzen angezündet. Bis heute leiden die Beteiligten an den Spätfolgen des traumatischen Ereignisses. Viele können zum Beispiel an dem Gedenktag am 11. März nicht teilnehmen, weil das für sie auch nach Jahren zu belastend ist. Manche suchen dann lieber Ablenkung an einem anderen Ort. Es ist klar, solch furchtbare Erfahrungen sind eine Lebensstrafe für die, die beteiligt waren.
Was ist aus Ihrer Sicht jetzt wichtig für die Betroffenen in Graz?
Es ist wichtig, dass die Familien nicht alleine sind mit ihrem Trauma. Ich habe nach Graz geschrieben und unsere Solidarität ausgedrückt und gezeigt, dass wir zusammenstehen. Man erkennt keinerlei Sinn in der Tat. Das geht uns in Winnenden auch noch so.
Welche Rolle spielt die Prävention?
Es ist mein Herzensprojekt, dass wir das Gedenken an Winnenden erhalten und uns einsetzen, solche Katastrophen vorzubeugen. In dem Verein für Präventionsarbeit in Winnenden organisieren wir unter anderem regelmäßig einen Kelternabend. Dabei ging es letztes Mal etwa unter dem Titel „Geschickt im Konflikt“ um Deeskalationstraining. Die Alte Kelter war gerammelt voll, der Bedarf an diesem Thema ist da. Auch Mobbing über soziale Medien greifen wir auf, das ist ein brennendes Thema. Und dann gibt es den Freitags-Kick in Weiler zum Stein seit 2010. Über Sport kann man so viel lernen: Teamgeist, Zusammenhalt und auch Empathie.
Was hat sich verändert im Laufe der Jahre?
Ich engagiere mich von dem ersten Tag an. Es ist für mich zur Lebensaufgabe geworden. Aber je länger die Amoktat vergangen ist, umso schwerer ist es, auf Interesse in der Öffentlichkeit zu stoßen. Unser Verein für Präventionsarbeit würde sich über mehr personelle und finanzielle Unterstützung freuen. Nach 16 Jahren scheint das nicht mehr so interessant, obwohl es so dringend wie je zuvor ist. Es geht um die Menschen und darum, solch eine Tat zu verhindern.
Was ist Ihr Hauptanliegen?
Die Gesellschaft sollte lernen, wieder mehr aufeinander zuzugehen. Weniger egoistisch zu handeln und mehr hinzuschauen als wegzuschauen. Auch wäre es hilfreich, mehr Zivilcourage zu zeigen. Es hilft auch, mehr den anderen wahrzunehmen und beispielsweise das Handy für einen Moment zur Seite zu legen.
In der Winnender Albertville-Realschule ist schon sehr viel passiert mit Blick auf Prävention. So gibt es beispielsweise einen Garten mit Hühnern, beim Umgang mit Tieren wird Empathie geschult. Sie haben auch ein tolles Café in der Schule und viele Projekte. Für Präventionsarbeit ist jedoch immer auch Zeit und Personal nötig.
Die Historie des Vereins
Entwicklung
Am Freitag, 2. Oktober 2009, wurde in Winnenden der Förderverein Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden gegründet. In der Mitgliederversammlung am 30. Oktober 2015 wurde die Namensänderung beschlossen. Der Verein trug seitdem den Namen Förderverein der Stiftung gegen Gewalt an Schulen. Nach der Auflösung der Stiftung erfolgte in der Mitgliederversammlung am 27. Juli 2022 der Beschluss zur Umbenennung von Förderverein in einen Verein. Der Winnender Verein trägt seitdem den Namen Verein für Präventionsarbeit.
Vorsitzender
Tobias Sellmaier ist seit dem 3. Oktober 2009 erster Vorsitzender, zuerst des Fördervereins und seit 2022 des neuen Vereins für Präventionsarbeit. Infos auch unter www.verein-fp.de. Beim Amoklauf am 11. März 2009 hat ein ehemaliger Schüler an der Albertville-Realschule in Winnenden und auf der Flucht nach Wendlingen (Kreis Esslingen) 15 Menschen getötet – und schließlich sich selbst.