Eine Rollschuh-Demo, eine Schlafstätte für Wohnungslose und die Stuttgarter Luftbahn: Studenten der Universität Stuttgart haben drei alternative Mobilitätsformen in der Stadt getestet. Was bringt das für die Stadt Stuttgart?

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Es hat auf jeden Fall für große Aufregung gesorgt: das Stadtregal unter der Paulinenbrücke. Die beiden Architekturstudenten Ali Hajinaghiyoun und Felix Haußmann von der Universität Stuttgart haben das Mobiliar entworfen gehabt und für einen Monat am Österreichischen Platz aufgebaut. Ihre Idee? Sie wollten mit der Mischung aus Schlafstätte, Küche und Foodsharing-Regal Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammenbringen.

 

Bei den Wohnungslosen, die sich seit Jahrzehnten unter der Brücke treffen, war das Möbelstück überaus beliebt, bei manchen Einzelhändlern und Nachbarn eher nicht so. „Das Stadtregal hat damit genau das gemacht, was es sollte. Sie haben eine Debatte angestoßen“, sagt die Architekturprofessorin Martina Baum (42), Leiterin des Instituts für Städtebau an der Universität Stuttgart.

Die Bürger sollen bei den Experimenten selbst erleben, wie sich die Veränderung anfühlt

Stuttgart ist eine Stadt, die vom Auto geprägt ist. Aber wem gehört die Stadt? Wie könnte nachhaltige Mobilität aussehen? Wie können wir die Stadt neu gestalten, um jedem dort einen Platz zu bieten? Darüber hat sich Baum mit ihren Mitarbeitern und Architekturstudenten im sogenannten Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur Gedanken gemacht. Bei dem Reallabor geht es um Experimente, die die Universität mit der Stadt und zivilgesellschaftlichen Akteuren für einen befristeten Zeitraum durchführt.

Die Aufgabe der Studenten? Die Stadt anders denken. Was wäre Stuttgart ohne lärmenden Verkehr, zugeparkte Straßen und schlechte Luft? In dem Seminar „Provisorische Architektur“ entwarfen sie Modelle, eine Jury wählte drei Entwürfe aus. Die Rollschuh-Demo „How do you roll?“, eine Schlafstätte für Wohnungslose und die Luftbahn vor dem Stadtpalais – das waren drei Ideen, die die Studenten dann in den vergangenen Monaten in der Stuttgarter Innenstadt ausprobiert haben. „Die Bürger sollten dabei wirklich erleben, wie sich ein Raum verändert“, sagt Baum. Die Ergebnisse werden nun an ihrem Lehrstuhl ausgewertet und dann publiziert.

Die Experimente sind bewusst zeitlich begrenzt

Für Baum ist der Vorteil dieser Experimente klar: Die Interventionen im öffentlichen Raum sind auf Zeit, die Nachbarn und auch andere Bürger wissen damit: das kommt auch wieder weg. Es ist quasi eine sanfte Methode, um Menschen an ein neues Mobilitätsverhalten zu gewöhnen. Aber, es könne auch eine mutige Debatte anstoßen, wie man die Stadt in Zukunft gestalten möchte. Was kann funktionieren in Stuttgart? „Man muss den Leuten ja Lust machen über eine andere Mobilität nachzudenken“, sagt Baum. Oft wehren sich Menschen gegen Veränderungen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass es zum Beispiel in der Stadt auch ohne Auto gehen kann. „Dafür braucht es die Experimente“, sagt Baum. „Die Menschen müssen die neuen Mobilitätsformen wirklich erleben, sehen und fühlen.“

Ein Plan sei meistens zu abstrakt, für Laien oft auch schwer zu verstehen. Dass sich in Stuttgart etwas verändern muss, sei klar: „Wir haben drängende Herausforderungen zu bewältigen wie den Klima- und Mobilitätswandel, den Mangel an Wohnraum und eine sich verändernde Arbeitswelt.“

Andere Städte setzen einen Mobilitätswandel zügiger um

Seit fünf Jahren lebt Martina Baum in Stuttgart, davor wohnte die Stadtplanerin unter anderem in Karlsruhe, Zürich und Köln. Der schwäbischen Landeshauptstadt fehlt es, so glaubt sie, oft an Mut. Es gebe viele Städte in Europa, die einen Mobilitätswandel schneller umgesetzt hätten wie zum Beispiel Kopenhagen und Oslo. Aber auch Karlsruhe entwickele sich zu einer für Radfahrer und Fußgänger freundlichen Stadt. Und es gebe dort einen Plan für die Klimaanpassung und die Raumentwicklung. „So macht man eine Stadt attraktiv“, sagt Baum.

Auch bei der Verkehrsbehörde fanden viele einige Realexperimente spannend. „Die Parklets zum Beispiel“, sagte Susanne Scherz, die Leiterin der Straßenverkehrsbehörde, bei einer Podiumsdiskussion im Stadtpalais zum Abschluss des Reallabors. „Die Themen waren für die ganze Stadt wichtig“, ergänzte sie. Die große Frage unserer Zeit sei ja: „Wie gehen wir mit dem öffentlichen Raum um?“

IBA-Intendant plädiert dafür,nicht nur Experimente auf Zeit zu machen

Andreas Hofer, Intendant der IBA 2027, saß in der Jury für den Studentenwettbewerb „Provisorische Architektur“. „Die Luftbahn mit dem geschichtlichen Narrativ hinterlegt fand ich faszinierend.“ Seine Kritik aber an den Reallaboren: „In Stuttgart experimentiert man und dann macht man hinterher nichts.“ Er glaubt, Stuttgart braucht den Mut, um Dinge gleich final umzusetzen: „Ich experimentiere ja nur, weil ich Angst habe, in die Vollen zu gehen“, sagt er im Stadtpalais.

Die Förderung für die Realexperimente läuft nun aus. „Was sehr schade ist“, sagt Martina Baum. Sie hält die Experimente, bei der Wissenschaftler gemeinsam mit Kommunen und der Zivilgesellschaft direkt auf der Straße experimentieren, immens wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs über das Leben in der Stadt.

Bereits in der ersten Projektphase des Reallabors von 2015 bis 2017 haben die Forscher vier Experimente initiiert: ein Sharing-Modell für Lastenräder, Seniorenrikschas, autofreie Parkplätze (Parklets) und eine Stäffele-Gallery, bei der Studenten die Stäffele zu einem öffentlichen Wohnzimmer umfunktioniert haben.