Seit Jahre ist eine junge behinderte Frau in den Neckartalwerkstätten tätig. Nun will ihre Kasse die Pflegekosten dort nicht mehr übernehmen. Die Stadt ist eingesprungen – und klagt gegen die Kasse.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - „Es geht aufwärts“, sagt Margarete L. (Name geändert). Sie meint damit die Entwicklung des VfB Stuttgart. Das ist für die 23-Jährige eine gute Nachricht und hebt ihre Stimmung. Die Weißroten gehören zum Wichtigsten in ihrem Leben.

 

Ganz persönlich läuft es bei der querschnittsgelähmten jungen Frau nicht so erfreulich. Seit etlichen Jahren ist sie in den Neckartalwerkstätten in Untertürkheim tätig. In der Behinderteneinrichtung werden Kleinteile für Daimler produziert, die Mitarbeiter machen Briefversand für den Autobauer, manchmal arbeitet Margarete auch am Empfang. „Mein Wunscharbeitsplatz“, sagt die junge Frau zufrieden. Die Stelle ist für sie mehr als nur ein Arbeitsplatz. In der Einrichtung mit rund 350 Plätzen sind auch ihre Freunde. Und natürlich ihr VfB-Fanclub, mit dem sie Wochenende für Wochenende beim Spiel ist, ob zu Hause oder auswärts. Nun fürchtet Margarete, dass sie das alles womöglich bald verlieren könnte.

Die Einrichtung ist mehr als ein Arbeitsplatz

Zweimal am Tag kommt die katholische Sozialstation aus Bad Cannstatt zu der Rollstuhlfahrerin in die Werkstätte, unter anderem um ihren Katheter zu wechseln. Die Kosten für diese „Behandlungspflege“ hatte lange Zeit die Techniker-Krankenkasse (TK) übernommen, anstandslos. Bis die Krankenversicherung vor wenigen Monaten erklärt hat, man sei für die Leistung gar nicht zuständig, und die Zahlungen einstellte.

„Das belastet mich schwer“, sagt Margarete L. „Ich habe Angst, dass ich zuletzt womöglich zu Hause bleiben muss.“

Technikerkasse fühlt sich hintergangen

Wenn die junge Frau zu Hause bliebe, dann würde die Kasse auch weiter bezahlen. Der Pflegedienst habe der Technikerkasse aber „über Jahre die Information vorenthalten, dass die Leistung eben nicht im häuslichen Bereich, sondern in der Werkstatt erbracht wird“, sagt Klaus Föll. Dies sei „der Ausgangspunkt für den Streitfall“, kritisiert der Pressereferent der baden-württembergischen TK-Landesvertretung. Aus Sicht der Kasse hätten der Pflegedienst und die Behinderteneinrichtung „wissen müssen, dass die Krankenkasse das nicht übernimmt“.

Vater Jochen L. (Name geändert) ist empört. „Das ist eine Schweinerei“, schimpft er über das Verhalten der Krankenkasse. Wenn seine Tochter ihren Arbeitsplatz verlieren würde und zu Hause bleiben müsste, wäre dies „ein Drama im Quadrat“, klagt der Vater. Schlimm sei es für die ganze Familie aber jetzt schon. Denn der Pflegedienst hatte, nachdem offene Rechnungen im Umfang von 7500 Euro aufgelaufen waren, angekündigt, die Pflegeleistung einzustellen. Daraufhin ist das Sozialamt der Stadt Stuttgart eingesprungen und übernimmt vorerst die Kosten – so sieht es das Gesetz für solche Fälle vor. Inzwischen hat sich Jochen L. zudem bei verschiedenen Stellen informiert und ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Techniker-Krankenkasse mit ihrer Einschätzung falschliege.

Werkstätten widersprechen vehement

Das sagt zum Beispiel Gerd Wielsch, der pädagogische Leiter der Neckartalwerkstätten. Medizinische Behandlungspflege, wie sie Margarete L. benötige, gehöre nicht zum Leistungsspektrum der Einrichtung. Man habe dafür nicht das nötige Personal. „Arbeitserzieher und Heilerziehungspfleger dürfen aber keine Katheter legen“, betont Wielsch. Da die 23-Jährige in der Einrichtung aber die Einzige sei, die eine solche Pflege brauche, wäre die Verpflichtung, auch dafür ausgebildete Mitarbeiter einzustellen, nicht verhältnismäßig, sagt der pädagogische Leiter. „Da sind die Gerichte eindeutig“, erklärt Wielsch entschieden.

Das stimmt, wenn auch mit einer Einschränkung. Albrecht Dengler, der pädagogische Leiter des BHZ Stuttgart, kennt das Problem. Dort hatte man unlängst einen ähnlichen Fall, weil die AOK die Dekubitus-Pflege einer behinderten Mitarbeiterin im BHZ nicht übernehmen wollte. „Wir haben recht bekommen“, sagt Dengler. Er kenne keinen Kollegen, der in ähnlichen Fällen vor Gerichtnicht gewonnen habe. So gebe es die Unterscheidung von häuslicher Pflege und Pflege in der Werkstatt, wie die Kasse sie mache, nicht. Allerdings habe der Gesetzgeber in der Werkstättenverordnung durchaus vorgesehen, dass die Einrichtungen pflegerische Leistungen erbringen sollen, allerdings nur, sofern der Pflegeaufwand nicht unverhältnismäßig wäre. Weil die Unverhältnismäßigkeit aber nicht genau bestimmt sei, komme es „regelmäßig vor“, dass Krankenkassen sich dieser Kosten entledigen wollten, so Dengler. Und so müsse jeder Fall vom Gericht als Einzelfall geprüft werden.

Die Zahl solcher Klagen steigt

„Probleme mit der Kostenübernahme bei der Behandlungspflege gibt es immer wieder“, sagt auch Stefan Pfeil, der Referent für sozialrechtliche Grundsatzfragen beim Sozialverband VdK im Land. Wie in anderen Bereichen verzeichne man auch hier „einen stetigen Anstieg der Widerspruchs- und Klageverfahren“, erklärt Pfeil.

Stadt beruft sich auf andere Urteile

Und so hat die Stadt Stuttgart bereits im vergangenen Juli beim Sozialgericht Klage eingereicht gegen die Techniker-Krankenkasse. Die Verwaltung geht mit Zuversicht in die juristische Auseinandersetzung. Die Neckartalwerkstätte müsse „nur den üblichen Pflegebedarf selbst abdecken“, stellt Sozialamtsleiter Stefan Spatz in Bezug auf ein Urteil in einem ähnlichen Fall fest. Das Landessozialgericht habe erklärt, dass eine Werkstätte nicht verpflichtet sei, „für alle theoretisch in Betracht kommenden Erkrankungen und Behinderungen entsprechendes Fachpersonal vorzuhalten“.

Vielleicht bekommt Margarete L. also ja bald zwei gute Nachrichten: dass der Rechtsstreit geklärt ist – und der VfB wieder in die Erste Bundesliga aufsteigt.