Kultur: Tim Schleider (schl)

Nach den Werten des Westens ist der Staat keineswegs einfach eine Demokratie – er ist ein demokratischer Rechtsstaat. Die Linken in Deutschland neigen in der Tradition der 68er-Bewegung noch immer stark dazu, die Bedeutung dieses Prinzips gering zu schätzen. Dabei ist just diese Reihung – „Rechtsstaat“ als Substantiv, „demokratisch“ als beschreibendes Adjektiv – die Substanz. Natürlich entscheidet in einer Demokratie die Mehrheit, wohin die Reise geht. Aber die Rechte der Minderheiten in einer Gesellschaft oder gar des einzelnen Individuums stehen keineswegs zur willkürlichen Disposition. Dank ihrer Rechte und der Gerichte können sie ihren Platz als Teil einer vielkulturellen Gesellschaft beanspruchen, selbst wenn die Mehrheit findet, dies würde ihren Mehrheitsinteressen zuwiderlaufen.

 

Genau deswegen hat ein rechtsgerichteter Populist wie der Bürgermeister von Budapest keineswegs das Recht, eine Schwulendemonstration in seiner Stadt verbieten zu lassen, nur weil er die „Pride Parade“ als „unnatürlich und eklig“ empfindet und eine Mehrheit der ungarischen Bevölkerung dieses Urteil vielleicht sogar teilt. Die Gerichte gaben den „Pride“-Veranstaltern recht. Und deswegen hat ein linksgerichteter Populist vom Schlag eines Nicolas Maduro keineswegs das Recht, ein ihm missliebiges Parlament einfach durch ein anderes, ihm wohlgefälligeres zu ersetzen, und schon gar nicht im Namen einer inzwischen beinahe zwanzig Jahre alten angeblichen Volksrevolution, die das Land inzwischen in tiefster Korruption und Misswirtschaft hat versinken lassen.

Wir haben in Deutschland und Europa immer wieder Grund, über manche Verfahren und einzelne Urteile den Kopf zu schütteln. Aber darüber verkennen wir oft, wie sehr wir von Menschen überall auf der Welt beneidet werden um eine Justiz und um Behörden, die dem Schutz des Einzelnen und nicht der Willkür verpflichtet sind. Es war für Deutschland nach der Schreckensjustiz der Nazizeit nicht leicht, auch auf diesem Feld die Werte des Westens umzusetzen. Viele Juristen selbst hatten große Mühe mit dem Lernprozess. Aber es war eine der wichtigsten Konsequenzen. Umso nötiger ist der Streit gegen alle Gruppen, die diese Lehren heute gering schätzen. Etwa behaupten, ein Schießbefehl an der Grenze würde das Abendland retten. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.der-wahn-von-der-identitaet-die-kaempfer-der-ewigkeit.4a7b6364-cbc6-4b05-9f4a-7f5c429cc76d.html http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.die-renaissance-des-nationalismus-vaterland-vaterland-ueber-alles.1ac10944-025c-4dda-a476-466b667dfea2.html