Die Spielewelt wird derzeit von der Western-Simulation „Red Dead Redemption 2“ beherrscht. Woher kommt der Erfolg?

Stuttgart - Dass der Western noch einmal einen weltweiten Boom erleben würde, war nicht vorauszusehen. Jedenfalls nicht im Kino. Die Wiederbelebung und – glaubt man der großen Mehrheit der Kritiker – Neudefinition des altehrwürdigen Genres musste stattdessen eine Videospielfirma übernehmen: Rockstar Games simuliert den Wilden Westen nun so szenisch perfekt und detailverliebt wie es noch kein Spiel gemacht hat.

 

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Ganz in der Tradition der meisten großen Western seit den 70er-Jahren handelt „Red Dead Redemption II“ vom Ende des vermeintlich glorreichen Wilden Westens gegen Ende des 19. Jahrhunderts. So ist die Hauptfigur Arthur Morgan kein Marshal Will Kane, den Gary Cooper 1952 legendär in „High Noon“ verkörperte, und auch kein Wyatt Earp, sondern ein übler Halunke mit Hang zu Trunksucht und derber Ausdrucksweise. Als Mitglied einer vom Holländer „Dutch“ van der Linde geführten Bande schlägt er sich durch eine bigotte und verkommene Welt, bei der Gut und Böse selten klar auseinanderzuhalten sind. Gejagt wird der wilde Haufen von der Detektiv-Agentur Pinkerton, die sich aus Zeitgenossen rekrutiert, die im Grunde auch nicht viel sympathischer sind.

Beeindruckende Verkaufsrekorde

Das alles erklärt nicht, warum dieses Spiel gerade beeindruckende Verkaufsrekorde einfährt und Kritiker wie Spieler in Verzückung versetzt. Sind es die gigantischen Werbetransparente, die Rockstar an einschlägigen Orten wie der Hamburger Reeperbahn aufhängen ließ? Ist es die Mischung aus beißendem Sarkasmus, überzeichneter Gewalt und schrägem Humor, den Rockstar unter anderem mit seiner Gangster-Parodie „Grand Theft Auto“ kultiviert hat? Oder ist es das Bedürfnis des in allen Lebensbereichen durchreglementierten modernen Menschen, einmal selbst auf einem schwitzenden und schnaubenden Ungetüm durch die Prärie zu donnern und Angst und Schrecken zu verbreiten?

Es ist sicher von allem ein bisschen. Was aber zunächst am meisten fasziniert, ist die offene Spielwelt, die so lebendig wirkt, wie man es noch nicht gesehen hat. „In dieser Welt passiert ständig etwas“, erklärt Rockstars Art Director Aaron Garbut. „Eine Klapperschlange, die dein Pferd erschreckt, ein Lagerfeuer oder die Lichter einer Stadt aus der Ferne. All diese Dinge, denen du begegnest, während du dich einfach nur dort aufhältst, ziehen dich in diese Welt hinein und erschaffen Erlebnisse, die sich echt und neu anfühlen.“

Grenzenlose Freiheit

Die Freiheit scheint grenzenlos. In den ersten Stunden wird man fast erschlagen von all den Möglichkeiten, die sich einem bieten. Man kann jagen, pokern, Schulden für einen (deutschen) Kredithai eintreiben, sich als Kopfgeldjäger betätigen, sich einen Bart stehen lassen (ja, der wächst tatsächlich!) oder am Lagerfeuer ein Wildragout brutzeln. Und natürlich wird geschossen und geflucht auf Teufel komm raus.

Hinzu kommt ein rabenschwarzer Humor und jede Menge Gewalt – weshalb das Spiel auch erst ab 18 Jahre freigegeben ist. Man kann im Spiel auch versuchen, eine ehrliche Haut zu sein. Doch damit kommt man nicht weit. Immer wieder steht man vor moralischen Entscheidungen, aus denen man mit weißer Weste kaum herauskommt. Da beschützt man einen betrunkenen Priester bei einem Überfall, tötet den Angreifer bei der Schlägerei aber versehentlich. Man weiß: Wenn die Pinkertons davon erfahren, heißt es bald „DEAD“, was in „Red Dead Redemption 2“ das „Game Over“ ersetzt. Es sei denn, man beseitigt einen lästigen Zeugen und wirft ihn in den Fluss.

Kein Platz für Helden

Für strahlende Helden ist hier also kein Platz. Zumal sich die menschlichen Protagonisten allein schon durch ihre Anwesenheit in dieser fantastisch inszenierten Natur schuldig machen. Wenn der anfangs alles malerisch bedeckende Schnee zu schmelzen beginnt, verwandeln sich die von den Rädern der Pferdekutschen aufgewühlten Straßen zu schlammigen Schneisen, die die Landschaft wie ein schmutzig-braunes Netz überziehen. Eisenbahnschienen durchschneiden ein Tal, Stollen bohren sich tief ins Erdreich, um Fabrikgebäude herum bilden sich Seen aus schwarzem Wasser. An vielen Orten trifft die Hauptfigur Arthur Morgan auf die Wunden, die von der Zivilisation und der beginnenden Industrialisierung geschlagen wurden.

Alles in allem wirkt das Spiel so authentisch, dass man gern darüber hinwegsieht, dass einiges nicht wirklich rund läuft in dieser so grandiosen Westernwelt. Die Wege, die man von Auftrag zu Auftrag abreiten muss, ziehen sich endlos, die Menüs sind ein Graus, und dauernd zückt man aus Versehen die Waffe oder boxt das eigene Pferd, was ungewollt für einigen Stress sorgt. Im Internet kann man Clip-Sammlungen von teilweise grotesken Fehlern bewundern: Kutschen beginnen plötzlich zu fliegen, Pferde und Personen versinken im Boden und immer wieder wird man von wild gewordenen Ziegenböcken attackiert. Hinzu kommt, dass „Red Dead Redemption“ kein besonders guter Lehrer ist: Neue Mechanismen und Tricks erklärt es meist mit kleinen Texten am oberen linken Bildrand, und ohne viel Feedback beim Ausprobieren.

So mehren sich Stimmen, die sagen, dass der Rummel um das Spiel ein großer Hype sei. Dazu kann man ganz klar sagen: Nein, das ist er nicht.