Seit den Terroranschlägen in London, Paris, Berlin und Manchester wächst die Angst vor weiteren Attentaten. Im Blick sind dabei junge Muslime. Der Präventionstag zeigt Wege auf, wie man Radikalisierung entgegenwirken kann. Dabei geht es auch um Fußball und die Frage nach dem richtigen Haarschnitt.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Hannover - Mit Blockflöten würde das Projekt wahrscheinlich nicht hinhauen. Die wären viel zu leise. Aber mit den selbst gebauten Instrumenten, den Kisten, an denen scheppernde Blechdosen hängen, und den Schlagstöcken, die wie gewaltige Prügel aussehen, klappt es vernehmbar gut. Die jugendlichen Musiker kommen aus dem Kosovo, Italien oder Portugal, sind aus Syrien geflüchtet oder in Deutschland geboren. Im schwäbischen Bad Urach üben sie zweimal die Woche im Keller der Gemeindehalle und nennen sich die „Beatstomper“. Jetzt stehen sie im Eingangsbereich der Hannover’schen Kongresshalle, schauen extrem zufrieden und zaubern trotz des Höllenlärms vielen Vorbeigehenden, die eigentlich auf dem kürzesten Weg zum nächsten Vortrag sind, ein Lächeln ins Gesicht.

 

In der niedersächsischen Landeshauptstadt kommen für zwei Tage 3000 Experten aus allen Bereichen der Kriminalprävention zusammen – vom Frauenhilfsprojekt bis zu den Strafverfolgungsbehörden. Ihr diesjähriges Thema lautet „Prävention und Integration“.

„Prävention stärkt und fördert Integration“, sagt der Kriminologe und Tagungspräsident Hans-Jürgen Kerner. Deshalb fordert Erick Marks, der Geschäftsführer des Deutschen Präventionstags, „eine nationale Präventionsstrategie, von der wir aber weit entfernt sind.“ Mit dieser Strategie haben die selbst gebauten Trommeln viel zu tun, denn die Percussion-Performance ist mehr als nur Pauseneinlage. Und wenn die Vorbeilaufenden hören könnten, wie Behar (15) und Leo (13) völlig selbstverständlich Sätze wie aus dem Lehrbuch der Prävention sagen, ihr Lächeln wäre noch breiter. Denn Behar sagt, dass es beim Trommeln auch um Respekt gehe. Vor den anderen, denn sie müssten ja alle aufeinander hören beim Musikmachen, sagt Leo. Respekt aber haben sie auch vor dem Initiator des Projekts Dierk Zaiser. Der Professor von der Musikhochschule Trossingen steht in kurzen karierten Hosen und Sonnenbrille mit ihnen auf der Bühne. Es gehe um musikalische Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, sagt er.

Prävention braucht Zeit

Seit zehn Jahren gibt es das Projekt schon. Nicht alle der sogenannten benachteiligten Jugendlichen sind von Anfang an freiwillig dabei, manche kamen auch nur, weil ein Jugendgericht sie dazu verdonnert hatte. Aber das Erstaunliche sei, dass sie auch dann noch zu den „Beatstompern“ kommen, wenn sie es gar nicht mehr müssten. Beim Musikmachen legen alle erstaunlich viel Disziplin an den Tag. Vielleicht, so sagt Zaiser, liegt es daran, dass sie hier den Raum bekommen, den sie brauchen.

So leicht und gleichzeitig so unendlich schwer ist Prävention. Sie braucht Zeit, ihre Erfolge sind still und wenig spektakulär. Sie fängt immer mit konkretem, wenig schlagzeilenträchtigem Handeln an – und mit einer Haltung. Christine Liermann von der Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention nennt das „die Kenntnis von der Sinnhaftigkeit präventiven Handelns“. Kurz: Prävention muss man wollen.

Das diesjährige Thema „Prävention und Integration“ ist nicht ohne Grund gewählt. Sicherheit ist das zentrale Wahlkampfthema. Präventionsanstrengungen sollen Sicherheit schaffen, in Zeiten stetiger Verunsicherung. Eine Befragung der R+V-Versicherung von Mitte letzten Jahres zu den Ängsten der Deutschen belegt, dass die Furcht vor Terroranschlägen in die Höhe geschnellt ist. So verwundert es nicht, dass es in Hannover zwar auch um häusliche Gewalt, Internetbetrug, Zivilcourage und Missstände in der Altenpflege geht, aber dominiert wird der Ideenaustausch von einem großen Thema: der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher und wie man ihr entgegentreten kann.

Es geht darum, Gespräche auszuhalten

Wenn man als Erziehungswissenschaftler und Streetworker wie David Aufsess aus Bremen kommt, kann man dazu viel erzählen. Der Verfassungsschutz rechnet die Hansestadt zu den Salafistenhochburgen. „Jugendliche haben Interesse, sich auseinanderzusetzen“, sagt Aufsess. Sie stünden als Menschen, denen ihre Religion wichtig ist, ebenfalls selbst unter dem Druck, sich zu positionieren. Gleichzeitig litten sie aber auch unter der Wahrnehmung der anderen, die in ihnen nur potenzielle Gefährder sehen. Das macht die Suche nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit nicht einfacher.

Aufsess arbeitet im Verein für akzeptierende Jugendarbeit. Das Modellprojekt heißt Jamil. Ursprünglich waren in den Rechtsextremismus abgewanderte Jugendliche dessen Klientel. Schon Anfang der 90er Jahre galt: Wir begegnen euch so, wie ihr seid. Für den Streetworker ist „Interesse die erste Form der Wertschätzung“. Sein Team geht dorthin, wo die Jugendlichen abhängen und für viele nur die sind, „die Lärm und Dreck machen“. Schon nach ein paar Wochen der Beziehungsarbeit, wie Aufsess die gemeinsamen Freizeitunternehmungen nennt, landet man bei den ersten lebenspraktischen Fragen – dem Stress in der Familie oder beim ersten Berufspraktikum. „Nach ein, zwei Jahren kann man dann an den Einstellungen arbeiten.“ Prävention ist Vertrauensaufbau. „Wer mich kennt, darf alles zu mir sagen“, ist auch Robert Erb überzeugt. Vom saarländischen Institut für präventives Handeln aus schult er Lehrer.

Zum Fußballspielen gehören Regeln

Ein Beispiel aus Aufsess’ Bremer Alltag: Freitags wird Fußball gespielt. Aber genauso regelmäßig verschwinden sechs von elf Spielern während des Spiels, um zu beten. Die anderen werden bedrängt, doch mitzukommen. Wenn Aufsess dann eingreift, ist das Gespräch schnell bei dem Vorwurf: „Ihr wollt uns das Beten verbieten.“ Darauf lässt er sich nicht ein. Er argumentiert mit den gemeinsamen Regeln, die für alle Freizeitangebote gelten: Der Ball wird nicht an die Decke gekickt, hinterher wird geputzt und gekickt wird nur, wenn alle da sind. „Der Konflikt wurde beigelegt“, sagt Aufsess. In Gesprächen, die man eben aushalten müsse. Der Kompass für sein Tun heißt für Aufsess immer soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte.

Die Schule ist nach Überzeugung des Islam- und Sozialwissenschaftlers Götz Nordbruch der Ort, wo diese Gespräche geführt und nicht vermieden werden sollten. Viele Initiativen zielen darauf. „Achtung“ etwa, das Projekt des Polizeipräsidiums Ludwigsburg, setzt in der Schule an. Im Moment prüft das baden-württembergische Innenministerium, ob „Achtung“ landesweit angeboten werden soll.

Der Glaube ist nur eine Facette der Jugendlichen

Eines der Hauptanliegen des Vereins Ufuq.de, für den Götz Nordbruch arbeitet, ist der selbstverständliche Umgang mit dem Islam und den Muslimen in Deutschland. „Jugendliche wollen über Religion reden“, sagt er. Das kann in einer zunehmend säkularen Gesellschaft Irritation auslösen. Aber Nordbruch berichtet von ganz banalen Fragen, die die jungen Muslime umtreiben. „Darf ich Fußballfan sein?“ ist eine, ebenso die nach religiös korrekten Frisuren. Also Undercut – ja oder nein? In den sozialen Netzwerken wird das heiß diskutiert. „Was ist das für ein Gott“, fragt Nordbruch dann zurück, „der sich für meinen Haarschnitt interessiert“. In auffällig vielen Projekten, die in Hannover vorgestellt werden, ist immer wieder von der deeskalierenden Wirkung des Humors die Rede. Aber Nordbruch hat auch die Gesellschaft und deren Sicht auf muslimische Jugendliche im Blick, wenn er auf die Selbstbeschreibung des Londoner Bürgermeisters Sadiq Khan verweist. „Ich bin ein Londoner, ein Europäer. Ich bin britisch, ich bin englisch, ich bin islamischen Glaubens, asiatischer Abstammung, pakistanischer Abstammung, ein Vater und Ehemann“, sagt Khan. Am stolzesten aber sei er, dass er als Sohn eines Taxifahrers Bürgermeister geworden sei. Der Glaube ist für ihn nur eine Facette seiner Person.

Prävention hat 100 Prozent Rendite

Denkt man wie er, ist Prävention nichts, was sich ausschließlich an Projekte der politischen und sozialen Bildungsarbeit delegieren lässt. Dann ist auch eine differenzierte Wahrnehmung des muslimischen Gegenübers ein Schritt in der Integrationskette – und damit Prävention. „Dass Prävention eine Sache von allen in der Gesellschaft ist, wissen wir schon lange“, sagt Christine Liermann vom Forum Kriminalprävention.

Und es profitieren auch alle davon. Nicht nur der soziale Frieden wird gewahrt, Prävention rechnet sich auch. Das zeigt eine Untersuchung Dieter Hermanns aus dem Rhein-Neckarraum. Die Kosten für Prävention sind dort nur halb so groß wie deren Gewinn. „Prävention hat eine Rendite von 100 Prozent“, sagt der Kriminologe.