Eine Frau lässt alles hinter sich und marschiert durch die Natur. Klingt nach einem Selbstfindungsmärchen, wird mit Reese Witherspoon aber mitreissend und beklemmend. Auch der Regisseur ist kein Unbekannter: Jean-Marc Vallée hat „Dallas Buyers Club“ gedreht.

Stuttgart - Cheryl Strayed war am Ende. Nach einer Reihe von Schicksalsschlägen fasste die Amerikanerin einen radikalen Entschluss: Sie packte ihr Leben in einen Rucksack und begann zu laufen – 1600 Kilometer quer durch die Wildnis. Auf dem Pacific Crest Trail, einem Wildwanderpfad, kämpfte sie sich ohne Vorerfahrung drei Monate lang durch die Natur. Heute ist sie sich sicher, dass sie diese Erfahrung nicht nur vor dem Absturz, sondern auch vor sich selbst rettete.

 

Im Prinzip klingt das erst einmal nach klassischer Selbstfindungsgeschichte: Noch eine dieser frustrierten Großstadtfrauen, die sich abseits ausgetretener Pfade zum vermeintlichen Glück läuft. Doch der „Große Trip“, Jean-Marc Vallées Verfilmung von Strayeds autobiografischem Buch „Wild“, ist alles andere als das.

Freilaufen von Tod und Heroin

Schon die erste Szene dieses unkonventionell inszenierten Films, in der Cheryl (Reese Witherspoon) sich mit schmerzverzerrtem Gesicht einen blutverkrusteten Zehennagel vom Fuß reißt, um weiter durch die Wüste marschieren zu können, lässt einen beim Hinsehen zusammenzucken. Autsch, das hat wehgetan. Hier geht es also nicht nur um Sinnsuche und Kalendersprüche, hier geht es vor allem um Schmerzen.

Und die sitzen tief. Was Cheryl da mit sich herumschleppt, scheint viel zu schwer für die zierliche Blondine. Nach dem plötzlichen Krebstod der Mutter stürzte die ehemalige Kellnerin ab. Heroinsucht, schneller Sex mit Fremden, die Scheidung von Ehemann Paul. „Der große Trip“ zeigt sie mit Augenringen und eingefallenem Gesicht vor dem Nichts – und mit einer radikalen Entscheidung im Kopf: Jetzt muss sie sich freilaufen.

Doch trotz ihrer schwierigen Startvoraussetzungen macht Jean-Marc Vallée, der mit „Dallas Buyers Club“ im vergangenen Jahr bereits Matthew McConaughey und Jared Leto zu einem Oscar verhalf, aus Cheryl kein Opfer, sondern eine ungewöhnlich starke Frauenfigur. Mit anarchischem Trotz stemmt sie sich während ihres Trips immer wieder gegen sich selbst, ohne dadurch ihre emotionale Zerbrechlichkeit zu verlieren. Sie ist keine Märtyrerin. Der Entschluss, ihr Leben über den Haufen zu werfen und tausend Meilen durch die Wüste zu laufen, ist genauso wagemutig wie verzweifelt. Cheryl hadert, zweifelt, stolpert, flucht. Nur umkehren, das tut sie nicht.

Nur die Mutter bekommt kaum Chancen

„Der große Trip“ wird zu einer intensiven Persönlichkeitsstudie, die selten vor Abgründen zurückschreckt. In Rückblenden erzählt Vallée die Vorgeschichte seiner Protagonistin. Einige dieser Szenen sind so schmerzhaft realistisch, dass man sich beinahe wünscht, sie mögen schnell vorbeigehen. Andere allerdings verlieren sich in einer Art seltsam verzerrter Oberflächlichkeit. Nicht nur hat Laura Dern beispielsweise kaum Zeit, ihre Rolle als Cheryls Mutter mit der angemessenen Tiefe zu spielen, man lässt ihr auch kaum eine Chance dazu.

Eigentlich selbst tief traumatisiert, wird sie zu einer Art moderner Pippi Langstrumpf stilisiert, die mit ihren Kindern durch Pfützen hüpft und fragwürdig sentimentale Lebensweisheiten weitergibt. Das ist ein schwerer Fehler, denn ihre eigenen Probleme werden dadurch so romantisiert, dass man sie als Charakter nur noch schwer ernst nehmen kann.

Bei Cheryl selber hingegen sieht das anders aus. Vallée, Witherspoon, die hier auch als Produzentin agierte, und der britische Starautor Nick Hornby, der ein geniales Drehbuch lieferte, verwandeln den Trip in eine minimalistisch inszenierte Doppelgeschichte: Halb zieht man mit Cheryl durch die offene Landschaft, halb wandert man in ihrem Kopf. Zusammengehalten werden beide Realitäten durch Musikfetzen, Gedichte und Gedankenbruchstücke, die Cheryl immer wieder vor sich hinmurmelt.

Weite Wüste, enger Kopf

Man verliert die Orientierung, weiß oft nicht mehr genau, in welcher Wirklichkeit man sich nun gerade befindet. Doch gerade das macht aus der Wanderung eine ernst zu nehmende Entwicklung. Dass das funktioniert, liegt auch an den extremen Kontrasten. Die scheinbare Unendlichkeit der Natur wirkt auf Cheryl gleichzeitig beängstigend wie heilsam, der chaotischen Enge in ihrem Kopf kann sie nun nicht mehr ausweichen.

In seinen besten Szenen entwickelt der Film ein fast klaustrophobisches Gefühl. „Der große Trip“ macht den inneren Kampf seiner Protagonistin sichtbar – und das, ohne groß auftrumpfen zu müssen. Denn die 38-jährige Hauptdarstellerin Reese Witherspoon spielt ihre Figur mit beeindruckender Intensität. Und das, obwohl sie die meiste Zeit nur sich selber und die karge Wüste als Resonanzfläche zur Verfügung hat. Doch mehr braucht es manchmal eben nicht.

Der große Trip – Wild. USA 2014. Regie: Jean-Marc Vallée. mit Reese Witherspoon, Laura Dern, Thomas Sadoski. 116 Minuten. Ab 12 Jahren.