Am 18. September stimmen die Schotten darüber ab, ob sie weiter zu Großbritannien gehören oder wieder unabhängig sein wollen. Wohin der Weg führen soll, darüber ist die Nation tief gespalten.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Inverness - An der Hauptstraße von Inverness, nicht weit vom Caledonian Hotel, hat sich ein Dudelsackbläser aufgebaut an diesem feuchten Augusttag im hohen britischen Norden. Von „Scotland the Brave“, dem wackeren Schottland, weiß er eine Weise zu dudeln. Touristen und Einheimische bleiben stehen, um dem Mann im blaugrünen Kilt zuzuhören. Weiter die Straße hinauf, in Richtung Bahnhof, versucht es ein Bänkelsänger mit derselben Botschaft, aber mit anderen Tönen. Wie viele Jahre noch vergehen müssten, bis „manchen Leuten“ endlich Freiheit zuteil werde, will ein aus Glasgow angerückter Bob-Dylan-Jünger mit dunklen Wuschelhaaren unter der Strickmütze von seinen Zuhörern wissen. „How many Years?“, wiederholt der klampfende Junge seine fordernde Frage. Die Antwort weiß bekanntlich – auch in Inverness – allein der Wind.

 

Jeder weiß dieser Tage in Schottland, wovon die Rede ist bei solchen Auftritten. Wieder einmal sind die Schotten an einem „Schicksalsdatum“ angekommen. In wenigen Wochen, am 18. September, stimmt Schottland darüber ab, ob es den über 300-jährigen Bund mit England auflösen und sich als eigener Staat konstituieren soll. Das ist, im Blick der schottischen Nationalisten, der Griff nach einer lang verwehrten Freiheit. Im Urteil anderer ist es eine fatale, eine katastrophale Idee. Die Unionisten – die Verteidiger der Union mit England, Wales, Nordirland und dem Rest der Britischen Inseln – sehen absolut keinen Grund für eine Aufspaltung der alten Einheit. Für sie hat „Scotland the Brave“ seinen festen Platz im Vereinigten Königreich. Und den soll es auch behalten.

Wie eng verzahnt die Teile Britanniens sind, zeigt ihrer Ansicht nach schon rein äußerlich die Ladenzeile, die den Hintergrund zum Dudelsack- und Gitarrenspiel abgibt. Dieselben Namen wie drunten in Leeds oder Liverpool – Clarks, Boots, Superdrug, die Optikerkette Specsavers – gehören zum vertrauten gesamtbritischen Innenstadtmobiliar. Spezifisch schottische Töne wie die Tartan- und Tweed-Shops der Stadt bereichern das Ganze natürlich. Im Eastgate-Einkaufszentrum am Ende der High Street sind keltische Muster in die Bodenfliesen eingelegt worden. Vom Falkenplatz grüßt auf seinem Sockel ein stolzes Einhorn bahnreisende Ankömmlinge.

Westminster ist viel zu weit weg

Zweisprachigkeit gehört auch dazu. Inverness heißt auf gälisch „Mund des River Ness“, Inbhir Nis. Integration ist bei aller kulturellen Vielfalt die Parole. Dagegen glauben Befürworter der Unabhängigkeit, dass Schottland sein Potenzial nur erfüllen kann, wenn es sich absetzt von England, dem übermächtigen Nachbarn im Süden.

Willie Cameron ist einer, der davon überzeugt ist. Er ist ein alter Fuchs im Tourismusbereich und gehört der Geschäftsführung des großen Hotel- und Gastwirtschaftskonzerns Cobb an. „Nur dem Namen nach“ gebe es ein Vereinigtes Königreich, meint der Geschäftsmann zur Lage in Schottland. „In Wirklichkeit ist die Regierung in Westminster viel zu weit weg von uns. Sie versteht nicht, was für Probleme wir hier oben haben. Erst wenn wir volle Unabhängigkeit erlangen, können wir auch unsere eigenen Angelegenheiten regeln“, erklärt Cameron seine Hoffnung auf Abnabelung vom Süden. Im Übrigen seien die Schotten „ein unverwüstliches Völkchen“ und gewiss nicht weniger einfallsreich als andere kleine Länder in Europa: „James Watt hat die Dampfmaschine erfunden, Dunlop den Reifen und Bell das Telefon. Wer sagt denn, dass wir nicht auf eigenen Beinen stehen können?“

Das, winken die Verteidiger des Status quo ab, sei ein gefährlicher, ein eitler Enthusiasmus. Der Unterhaus-Abgeordnete für Inverness, Danny Alexander, warnt vor einer „unumkehrbaren Entscheidung“, die sich die Leute hier im Herzen der Highlands sehr sorgfältig überlegen müssten: „Schottland ist einfach stärker, wohlhabender, erfolgreicher und einflussreicher als Teil des Vereinigten Königreichs.“

Ein Minister unterwegs in „seinen“ Highlands

Drunten am Fluss, am Nordende der federnden Greig-Street-Fußgängerbrücke, hat Alexander sein winziges Wahlkreisbüro für die Highlands eingerichtet. Wenn er durch die Tür nach draußen tritt, sieht der liberaldemokratische Politiker einen unbändig gewordenen River Ness schnell und mit bedrohlich hohem Wasserstand an sich vorübertreiben. Die Straße vorm Büro ist aufgerissen, weil zurzeit eine Ufermauer gegen Überschwemmungen errichtet wird.

Genau wie diese eilends errichtete Mauer dem Fluss sucht Alexander mit allen Mitteln dem Druck des neuen Stroms nationalistischer Bestrebungen zu widerstehen. Zusammen mit der Labour Party und den Konservativen will seine Partei einen Sieg der schottischen Nationalpartei, der SNP, am 18. September verhindern. Kreuz und quer reist der Inverness-MP, der in London die Nummer zwei in der Schatzkanzlei und damit ein mächtiger Minister ist, durch „seine“ kleinen Highlands-Orte, um sich gegen die politische Flut zu wehren. „Ich bin ein ebenso stolzer und patriotischer Schotte wie jeder Nationalist hierzulande“, beharrt Alexander auf seinem Veranstaltungsmarathon. „Aber Nationalismus setzt viel von dem aufs Spiel, was unser Land erst wirklich groß macht.“

Zum Beispiel würde ein schottischer Währungsverband mit England ohne politische Einheit schlicht nicht funktionieren, meint der Minister. Die Bank von England hätte die Hand am Drücker, und Edinburgh „wäre nirgendwo“. Der Binnenmarkt für schottische Unternehmen würde außerdem dramatisch schrumpfen. Und als separate Nation, warnt Alexander, würde Schottland zwangsläufig auch in ein größeres Defizit stolpern. Dagegen lebe man als fester Bestandteil der Union, aber mit weitgehender Selbstverwaltung, in der „besten aller Welten“.

Die Angst vor dem Defizit

Über derartige Behauptungen kann Willie Cameron nur lachen. Das alles, meint der Gastronomiemanager, sei doch nur „Angstmacherei“ der Unionisten. „Ich glaube“, meint Cameron, „wir werden es bitter bereuen, wenn wir diese einmalige Gelegenheit nicht beim Schopf ergreifen.“

Ein solcher Aufruf zur Rebellion gegen London hat auch seinen Beiklang aus alten Zeiten. Immerhin gehörte der Clan der Camerons einst zu jenen aufständischen Jakobiten, die englischen Regierungstruppen eine verzweifelte und denkwürdige letzte Schlacht zur Befreiung aus dem Griff des mächtigen Südens lieferten. Weit muss man von Inverness aus nicht fahren, um sich diese Schlacht aus dem Jahr 1746 in Erinnerung zu rufen. Culloden Muir, das Moor von Culloden, liegt nur eine Viertelstunde östlich der Stadtgrenze. Eine viel besuchte, eindrucksvolle Gedenkstätte mahnt an diesen schicksalsschweren Tag der schottischen Geschichte. Weithin sichtbare Fahnen im Moor markieren die Frontlinien der damaligen verfeindeten Lager. Hier der schottische Saltire, das weiße Kreuz auf blauem Grund, hinter dem sich die Truppen der alten Highland-Clans und des legendären Bonnie Prince Charlie sammelten. Dort die roten Banner der englischen Abteilungen, mit einzelnen schottischen Alliierten, Hannoveranern und anderen Anhängern der 1707 gegründeten Union zwischen England und Schottland.

Historisches Massaker hat Spuren hinterlassen

Allerlei Parallelen zu jenem Blutbad sind zur gegenwärtigen Referendumsschlacht gezogen worden. Wie sehr die englischen Herrscher ihre schottischen Besitzungen vernachlässigt hatten. Wie wenig man den Highland-Groll in London verstand. Wie andererseits die Aufständischen sich verschätzten, was ihre Stärke und anfängliche Erfolge betraf. Und wie der Aufstand mit Hilfe abtrünniger schottischer Stämme niedergeschlagen wurde, so dass Bonnie Prince Charlie die Flucht ergreifen musste. Danach die Massaker, die Hinrichtung der Verwundeten, das Brandschatzen und Morden, die Entwaffnung der Clans. Auch das traditionelle System wurde in den Highlands zerstört. Das Tragen von Kilts und Schottenmustern wurde verboten. Im kollektiven Gedächtnis des Landes haben dieses letzte Gefecht und seine Folgen bis heute ihre Spuren hinterlassen.

Die Befürworter der Unabhängigkeit wissen, dass ihre Chancen auf einen Sieg am 18. September nicht viel besser sind als die des Prinzen Charles vor 268 Jahren. Alle Umfragen deuten auf ein Scheitern des Referendums hin. Die Demoskopen erwarten, nach Ausschluss der Unentschiedenen, 55 bis 60 Prozent für den Weiterbestand der Union. Die Unentschiedenen sind allerdings schwer einzuordnen. „Viele werden aber am Ende in die Wahlkabine gehen und sagen: Nein, das kann ich nicht machen, das läuft bestimmt schief“, vermutet Jim Sweeney, der in der Kinderabteilung des Kreiskrankenhauses von Inverness, dem Raigmore Hospital, als Pfleger tätig ist. Sweeney, in England aufgewachsen, aber von schottisch-irischer Abkunft, neigt zu einem Ja zur Unabhängigkeit. In einem unabhängigen Schottland wäre es, glaubt er, „zumindest leichter, den Volksvertretern mehr Rechenschaft abzufordern“. Auch seine Frau Val, die als Redakteurin beim „Inverness Courier“ arbeitet, spricht von einem „anderen Denken“ in Schottland und traut einer unabhängigen Nation mehr Willen zum Austarieren sozialer Unterschiede zu. Die Kluft zwischen den Superreichen und den Habenichtsen im Vereinigten Königreich, klagt sie, sei „einfach zu groß geworden“.

Schuld haben die Tories

Die Schuld dafür und an der sträflichen Vernachlässigung Schottlands geben viele Schotten vor allem den Konservativen und ihrer Politik, von Margaret Thatcher bis hin zum jetzigen Tory-Regierungschef David Cameron, der sich (trotz seines schottischen Namens) als Vorstreiter der südenglischen High Society nie viel in Schottland hat blicken lassen. Dagegen wird den Nationalisten gutgeschrieben, dass sie im Rahmen des ihnen im schottischen Parlament Erlaubten zum Beispiel Rezept- und Studiengebühren abgeschafft haben sowie mit einer Reihe anderer populärer Maßnahmen eine Alternative zur „herzlosen“ Londoner Politik entwickelten.

Genau diese Hoffnung auf eine deutlich sozialer orientierte Form der Selbstbestimmung ist denn auch oft mehr aktuelle Antriebskraft der Unabhängigkeits-Befürworter als Patriotismus traditioneller Art und antienglisches Ressentiment. Dass gegenwärtig wieder permanent Beihilfen für die Mittellosen „von London“ gestrichen werden und auch in Inverness, das eigentlich wirtschaftlich floriert, immer mehr karitative Essensausgaben eingerichtet werden müssen, hat den Wunsch nach einem Ende der Abhängigkeit vom „falsch gestrickten“ Süden zusätzlich gestärkt.

Freilich gibt es auch andere Sichtweisen, selbst in derselben Familie. Sweeneys Sohn Joseph, Schulabgänger und Musiker, sagt: „Man kann doch nicht ein Land nur deshalb unabhängig machen, weil einem eine Regierung zuwider ist!“ Schwester Jessica, eine Historikerin, fragt sich, warum man noch mehr neue Grenzen ziehen wolle: „Es gibt doch jetzt schon viel zu viele in der Welt.“ Wenige Wochen vorm Urnengang sei sie noch unschlüssig mit ihrer Entscheidung. Drei verschiedene Ergebnisse bei einer Familienbefragung also – das ist nicht untypisch bei diesem Referendum. Viele in Schottland tun sich schwer, weil sie gute Argumente auf beiden Seiten finden.

Unterdessen hat der Dudelsack-Mann beim Caledonian Hotel sein Instrument eingepackt und sich ins Trockene verzogen. Die Stadt gibt auf für heute. Das Einhorn fröstelt. Boots und Specsavers verrammeln ihre Ladentüren. Grummelnd zieht der River Ness an Danny Alexanders Büro vorüber. Was aber der Wind weiß, der das Wasser vor sich hertreibt, wird er mit Sicherheit niemandem verraten.