Bundesinnenministerin will das Gemeinsame Europäische Asylsystem reformieren. Der Migrationsforscher Lukas M. Fuchs ordnet ein, was die deutsche Regierung vor hat – und was ihn daran stört.

Berliner Büro: Rebekka Wiese (rew)

Screenings an den Außengrenzen, schnellere Asylverfahren und mehr Rücknahmen: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich vorgenommen, das Gemeinsame Europäische Asylsystem zu reformieren. Der Migrationsforscher Lukas M. Fuchs ordnet das Vorhaben ein.

 

Herr Fuchs, Innenministerin Faeser hat kürzlich von einem „historischen Momentum“ in der Asylpolitik gesprochen. Hat sie recht?

In einem gewissen Sinne halte ich den Begriff für nachvollziehbar. Gerade wird in der EU intensiv am Gemeinsamen Asylsystem gearbeitet, weil im Juni 2024 die Wahlen für das Europäische Parlament anstehen. Viele Beobachter sagen zurecht: Wenn man eine Reform will, muss sie jetzt passieren, sonst klappt es nicht mehr. Ich finde Faesers Aussage aber zu positiv. In den vergangenen Jahren haben sich die EU-Kommission oder einzelne Staaten oft bemüht, das Asylsystem voranzubringen – ohne Erfolg. Ich habe nicht das Gefühl, dass die aktuellen Verhandlungen zielführender sind. Nur der Zeitdruck hat zugenommen.

Welche Stärken hat die Position der deutschen Regierung in Ihren Augen?

Die Bundesregierung folgt einer Strategie der Kompromissbereitschaft. Sie schwenkt auf den Brüsseler Kurs ein – also auf das, was die EU-Kommission schon vor fast drei Jahren vorgeschlagen hat. Dieser Vorschlag kam aber nicht voran, weil man sich in der EU nicht darauf einigen konnte, die Geflüchteten nach einem fairen Prinzip unter den Mitgliedsstaaten zu verteilen. Um voranzukommen, versucht die Bundesregierung diesen Streitpunkt jetzt zu umschiffen, indem sie sich absolut flexibel gibt.

Und wo sehen Sie Schwächen?

Ich vermisse in der Position die roten Linien. Alles scheint verhandelbar, auch Grundrechte. Es gibt zwar ein vorsichtiges Bekenntnis zur Seenotrettung und auch zum Monitoring von Menschenrechten. Aber darüber hinaus finden sich in der deutschen Position viele Punkte, die ich für sehr schwierig halte.

Zum Beispiel?

Für mich kommt besonders überraschend, dass die deutsche Position die Asylverfahren an den EU-Außengrenzen so uneingeschränkt unterstützen will. Heikel finde ich auch den Fokus auf „sichere Drittstaaten“ – und insbesondere die Idee, dass Asylbewerber auch in Länder zurückgeschickt werden könnten, in denen nur bestimmte Regionen als sicher gelten. Das wurde auch lange mit Blick auf Afghanistan so versucht. Das ist hochgradig problematisch, weil sich Situationen eben sehr schnell ändern können.

Befürworter der Reform argumentieren, dass der Vorschlag nicht perfekt sei – aber in jedem Fall besser als gar keine Lösung.

Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, dass weniger Geflüchtete versuchen, nach Europa zu kommen, sobald wir Lager an den Außengrenzen errichten. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass die ausgelagerten Asylverfahren dazu führen, dass die Aufnahmebereitschaft in irgendeinem EU-Mitgliedsstaat tatsächlich zunimmt. Das halte ich für naiv. Ich bin in jedem Fall für eine europäische Lösung. Ich denke aber auch, dass ein Kompromiss nicht auf Kosten von menschenrechtlichen Standards erkauft werden darf.

Migrationsexperte

Lukas M. Fuchs ist Migrations- und Flüchtlingsforscher. Er arbeitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin, wo er sich mit Rückkehrbestrebungen und Staatsbürgerschaft von Geflüchteten beschäftigt. Zu seinen Schwerpunkten gehören außerdem unter anderem globale Flüchtlingsstudien, Migration und mentale Gesundheit sowie Werte und kulturelle Vielfalt.