Ein Erfolgsmodell, das Schule macht: An über 30 Orten in Deutschland beraten Jurastudenten Asylsuchende – unter anderem in Tübingen. Die Idee der Refugee Law Clinics kommt aus den USA.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Tübingen - Als das „Coffee to stay“ in der Tübinger Bachgasse wie jeden Montag um 17.30 Uhr öffnet, ist es für den 19-jährigen Tiran schon fünf vor zwölf. Vor einer Woche hat er seinen Abschiebebescheid bekommen. Sein Antrag auf Asyl wurde als unbegründet abgelehnt. Aber der junge Albaner will bleiben, er hat eine Lehrstelle als Lagerist. Eine Woche hat er Zeit, gegen den Bescheid Klage einzulegen. Nur ein paar Stunden bleiben ihm noch, will er noch weiter eine Chance auf ein Leben in Deutschland haben. Geduldig hat er mit seiner ehrenamtlichen Betreuerin Ardita Shala gewartet, die selbst vor 27 Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland kam.

 

Die Rechtsberatung im katholischen Gemeindehaus St. Johannes, die pensionierte Juristen und Jurastudenten der Universität Tübingen gemeinsam leisten, ist Tirans letzte Rettung. Wie sehr die Zeit drängt, weiß er selbst zu diesem Zeitpunkt gar nicht. Er weiß nur, dass er Hilfe braucht.

Die Klage muss heute noch raus

Georg Hofmann (24) und Dena Rad (22) studieren an der Universität Tübingen Jura und gehören zum Team der dortigen Refugee Law Clinic, das im vergangenen Jahr zusammengefunden hat. Während der 19-Jährige erzählt, schauen die beiden den Zettelwust durch, den er mitgebracht hat. Ihre Blicke scannen die Dokumente auf die entscheidenden Daten und Fristen, gezielt stellen sie Fragen. Zwischendurch blättern sie immer mal wieder in der Gesetzessammlung zum Ausländerrecht. Schnell ist klar, dass nicht viel Zeit zu verlieren ist und dass bis 24 Uhr eine Klage und ein Antrag auf aufschiebende Wirkung der Abschiebung rausgehen müssen.

Die Idee, in sogenannten Law Clinics, also im echten Leben, die erworbenen Rechtskenntnisse anzuwenden, stammt aus den USA und nahm dort in den 70er Jahren ihren Anfang. Schon damals stand der Gedanke im Mittelpunkt, benachteiligte Menschen zu unterstützen, die zu arm sind, sich juristischen Beistand leisten zu können. In Deutschland gibt es mittlerweile an die 30 Refugee Law Clinics, die angedockt an die rechtswissenschaftlichen Fakultäten der jeweiligen Unis oder als eingetragene Vereine arbeiten. Ihr Arbeitsfeld ist die Beratung in Asylrechtsfragen. „In diesem Rechtsbereich gibt es an der Universität keine speziellen Pflichtveranstaltungen“, sagt Jochen von Bernstorff. Der Professor für Staats- und Völkerrecht ist Schirmherr der Tübinger Refugee Law Clinic. Gleichzeitig sei das Migrationsrecht „sehr komplex und ständig in Veränderung“. Experten sind also Mangelware – was schnell nachzuvollziehen ist angesichts der vielen Asylsuchenden, die 2015 nach Deutschland gekommen sind, einen der vielen Behördenschriftsätze nicht verstehen und Rechtsauskunft suchen.

Die Entstehungsgeschichten und der Planungsstand der einzelnen deutschen Refugee Law Clinics sind unterschiedlich, aber überall haben sich die Partner in einer Win-win-Situation für alle Beteiligten zusammengefunden. In Tübingen etwa ging die Clinic aus einer bereits existierenden studentischen Initiative hervor. Bei „Law and Legal“ helfen Jurastudenten ihren Kommilitonen bereits in zivilrechtlichen Fragen – wie etwa Mietangelegenheiten.

Zusatzausbildung für 24 Studierende

Als die Flüchtlinge nach Tübingen und das Umland kamen, wollten die Studierenden ihr Arbeitsfeld ausdehnen. Sie trafen auf Anwälte, die händeringend nach kundigen Helfern suchten und die Idee der Refugee Law Clinic unterstützen. In komplizierten Fragen und zur Rückversicherung stehen sie als Volljuristen in Kontakt mit den Studenten. Eine der treibenden Kräfte ist der Tübinger Asylanwalt Manfred Weidmann. Er fungiert seit vielen Jahren als Rechtsberater unter anderem des Diakonischen Werks und des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. In Tübingen gibt es seit dem vergangenen Sommersemester ein Zertifikatsstudium, in dem die jeweils 24 Studenten eine Zusatzqualifikation erlangen. Für das aktuelle Semester gab es mehr Bewerber als Studienplätze. Der Vizepräsident des Sigmaringer Verwaltungsgerichts, Wolfgang Armbruster, hält die Blockvorlesung zum Migrationsrecht. Der deutschlandweit gefragte Experte in Sachen Ausländerrecht unterstützt die Idee der Refugee Law Clinic tatkräftig: „Ich finde es gut, wenn Studenten in der Praxis lernen, und sich zudem in einem Bereich engagieren, in dem ein großer Bedarf besteht, und dabei auch noch etwas für die Gesellschaft tun.“

Zusätzlich zu den Vorlesungen stehen auch Wochenendseminare an, in denen es um alle das Asylverfahren tangierenden Themenbereiche geht – von Traumata bis zur Frage, ob ehrenamtliche Betreuer Asylbewerber bei ihrer Anhörung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge begleiten dürfen. In der Mehrzahl der Fälle bereiten die angehenden Juristen die Ratsuchenden auf ihre Anhörung vor. „Diese paar Stunden entscheiden über das weitere Leben“, sagt Weidmann, der wie Armbruster als Praktiker und Organisator bei den Wochenendtreffen dabei ist.

Dass die Treffen im Weingartener Tagungshaus der Diözese Rottenburg-Stuttgart stattfinden, liegt daran, dass Claus Barwig, deren Referent für Migration, schon über mehrere Jahrzehnte die Experten zum Thema auf Tagungen zusammenbringt. Barwig sieht sein Angebot „als Wertschätzung für die Arbeit der Studenten“. Für ihn sind die jungen Menschen, die sich in den Refugee Law Clinics engagieren, „der Sauerteig, wenn sie später in Behörden und Richterämtern sitzen“.

Im „Coffee to stay“ telefoniert an diesem Abend der Jurastudent Georg Hofmann mit dem Asylspezialisten Manfred Weidmann. In komplexeren Fällen haben die Studenten das Backup durch die Rechtsanwälte. Dann schicken er und Dena Rad den 19-jährigen Albaner mit den zwei Schriftsätzen in einen Copyshop. Von dort muss er bis 24 Uhr seinen Widerspruch faxen. Mehr können sie im Moment nicht für ihn tun. Höchstens noch den Rat geben, die Empfangsbestätigung gut aufzuheben.