Seit genau drei Jahren ist der damals heftig umstrittene gesetzliche Mindestlohn in Kraft. Verflogen ist der Pulverdampf. Doch die Probleme bleiben: Die Untergrenze wird unterschritten, und Teile des Gesetzes belasten gerade kleine Betriebe.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Zugespitzt mag man es so formulieren: Die Wirtschaft ist nicht kollabiert – Entlassungswellen sind ausgeblieben. Der am 1. Januar 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn hat die düsteren Prognosen der sich hartnäckig widersetzenden Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler nicht erfüllt. Im Gegenteil: Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt sogar schon, dass die CDU-Kanzlerin für die Errungenschaft verantwortlich gewesen sei. Ein Stück aus Absurdistan.

 

Dennoch birgt der momentan bei 8,84 Euro angesiedelte Mindestlohn weiterhin höchste Brisanz. In der jüngsten wissenschaftlichen Studie haben das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Universität Potsdam herausgearbeitet, dass das Gesetz zwar zu bedeutenden Lohnsteigerungen geführt hat, aber zugleich bekommen noch etwa sieben Prozent der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer weniger als den Mindestlohn. Das waren im Jahr 2016 immerhin 1,8 Millionen Beschäftigte. Trotz des überproportionalen Lohnanstiegs von 15 Prozent seit 2014 im untersten Lohnzehntelbereich sei es nicht gelungen, für alle Anspruchsberechtigten die Lohnuntergrenze sicherzustellen. Gerade bei den geringfügig Beschäftigten wie Minijobbern würden die Ziele des Gesetzes nicht erreicht – 43 Prozent lagen 2016 unter dem Mindestlohn. Ähnliches gilt verstärkt auch für Beschäftigte kleiner Firmen und ausländische Mitarbeiter – für Frauen mehr als für Männer, für Ostdeutsche mehr als für „Wessis“.

Für Selbstständige und Auszubildende gelten Ausnahmen

Viele Erwerbstätige unterliegen bis jetzt nicht den Mindestlohnregeln: Für Selbstständige und Auszubildende gelten Ausnahmen. Werden diese Beschäftigten ohne Anspruch hinzugezählt, haben 4,4 Millionen Menschen 2016 die damalige Untergrenze von 8,50 Euro pro Stunde unterschritten.Noch schlechter sehen die Werte aus, wenn man den Stundenlohn auf Basis der tatsächlichen statt der vertraglichen Arbeitszeit errechnet: Dann haben sogar 2,6 Millionen Erwerbstätige im Vorjahr weniger als 8,50 Euro erhalten – und 6,7 Millionen Erwerbstätige, wenn man die nicht Anspruchsberechtigten einbezieht. Wobei häufig freiwillig unbezahlte Überstunden geleistet werden. Klar belegt sehen die Forscher den Fortbestand eines großen Niedriglohnsektors in Deutschland. Dieser macht auch um Stuttgart keinen Bogen: Verdi bestreikt gerade hin und wieder den Ufa-Palast, weil Beschäftigte dort nicht mehr als 8,84 Euro pro Stunde verdienen.

Die Studie leitet Wasser auf die Mühlen der Mindestlohnbefürworter: „Verstöße schaden vor allem den Beschäftigten, führen zu Einnahmeausfällen in der Sozialversicherung und den Steuerkassen, bedeuten aber auch Schmutzkonkurrenz für Unternehmen, die sich korrekt verhalten“, rügt der Gewerkschaftsbund. Dass die Lohnuntergrenze oft nicht greift, wird mit mangelhaften Kontrollen begründet – die stark steigende Zahl von 2430 Ermittlungsverfahren im ersten Halbjahr 2017 sei nur die Spitze des Eisbergs. Der DGB fordert die Aufstockung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auf 10 000 Planstellen. Derzeit sind von 7200 Plätzen 900 nicht besetzt. Die 1600 wegen des Mindestlohns geplanten Stellen können nur peu à peu besetzt werden. Um den Druck zu erhöhen, fordert die Baugewerkschaft gar einen „Lohnsünden-Pranger“ – ein öffentliches Register für Verstöße nach britischem Vorbild.

Als großes Problem wird die Dokumentationspflicht wahrgenommen

Viel erzählen über die Sorgen der Betriebe kann Daniel Ohl, Sprecher des Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) Baden-Württemberg. Demnach hatte der Mindestlohn einen Effekt auf die gesamte Lohnskala im Betrieb, denn weil die unterste Lohngruppe für Küchenhilfen angehoben werden musste, wurden auch die Abstände darüber wiederhergestellt. Umfragen des Dehoga zeigen: „Ein großer Teil der Unternehmer meldet, dass der Ertrag unter Druck kommt, weil die Personal- und Betriebskosten gestiegen sind“, sagt Ohl, der zugleich auf die aktuell „gute bis sehr gute Nachfragesituation“ verweist. Bei 30 600 Betriebsstätten, 128 000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten (ohne Selbstständige und Aushilfskräfte) sowie 10,5 Milliarden Euro Jahresumsatz wachse das Gastgewerbe im Südwesten beachtlich.

Das große Problem sei aber nicht die Mindestlohnhöhe, sondern die Pflicht zur Dokumentation der Arbeitszeit, die mit dem Gesetz einhergeht. Mit diesen „erheblichen Bürokratieaufwendungen“ und der Einhaltung der Höchstarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag kämen viele Betriebe nicht klar. Das Gastgewerbe sei geprägt von hoher Erwartung an den Service und die Öffnungszeiten. „Die Betriebe reißen die zehn Stunden immer wieder“, sagt Ohl. Vorher sei die Arbeitszeit nicht erfasst worden. Nun wird sie bei Kontrollen transparent, und der Gesetzesverstoß fällt auf.

Dehoga kämpft für mehr Flexibilität

Ein kleiner Vollerwerbsbetrieb lasse sich aber nicht in mehreren Schichten führen. Folglich begrenzen einige Wirte nun ihr Angebot – mehr als jeder zweite Betrieb hätte seit 2015 seine Öffnungszeiten eingeschränkt. Der Chef eines Hotels im Großraum Stuttgart mit bis zu 30 Mitarbeitern habe auf sieben Positionen Arbeitszeitprobleme bereinigen müssen. Nun gebe es keine Abendkarte mehr, und den Minijobbern sei gekündigt worden. Eine Aushilfskraft etwa, die tagsüber acht Stunden in der Altersheimküche arbeite, dürfe abends nicht mehr in der Gastronomie beschäftigt werden.

Somit kämpft der Dehoga an führender Stelle für mehr Flexibilität mit der Einführung einer Wochenhöchstarbeitszeit von 48 Stunden bei Beibehaltung der restlichen Restriktionen. Wie dieser politische Konflikt endet, ist noch lange nicht entschieden.