Bei krankhaftem Übergewicht (Adipositas) können Kinder und Jugendliche nun auch ohne Folgeerkrankung in Kur gehen. Dafür werben die Fachkliniken Wangen und die Deutsche Rentenversicherung.

Wangen im Allgäu - Dass Maria (Name geändert) hier mit ihren Leidensgenossen sitzt und von ihrer Adipositas-Erkrankung erzählt, darf als kleines Wunder angesehen werden. Wenn alles seinen normalen Gang gegangen wäre, hätte das wohl niemals geklappt. Doch die 16-Jährige aus Frankfurt am Main ist einfach zu ihrem Kinderarzt gegangen und hat sich selbst in die Fachkliniken Wangen, eine Rehabilitationseinrichtung für übergewichtige Kinder und Jugendliche, einweisen lassen.

 

Maria ist eine selbstbewusste junge Frau mit rotem Haar. Sie ist es gewohnt, für sich selbst zu sorgen. Ihr Vater starb früh an Drogen, ihre Mutter ist Alkoholikerin. Im Alter von vier Jahren kam sie ins Heim. Ihre Mutter war mit ihr und den Schwestern überfordert. Sie wog mal viel, mal weniger. Sie ging ins Fitness-Studio, hat geboxt. Immer wieder kam der Frust zurück. Dann wog sie 98 Kilogramm. Da reichte es.

Nur bei einer Folgeerkrankung war eine Reha möglich

Soviel Eigeninitiative ist selten. Im Normalfall ist es Sache des behandelnden Kinderarztes zu beurteilen, ob ein Patient krankhaft übergewichtig ist. Dazu muss er zu den drei Prozent bundesweit zählen, die am dicksten sind. Künftig aber sollen es die Pädiater leichter haben. Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat Ende 2012 die gesetzliche Richtlinie für die Versicherungsträger, um ein übergewichtiges Kind oder einen zu dicken Jugendlichen einzuschätzen, um einen entscheidenden Passus erweitert. Anders als bisher ist eine Reha nun auch möglich, wenn noch keine Folgeerkrankung wie Bluthochdruck, Altersdiabetes oder psychosomatische Störungen vorliegt.

Grund genug für die Fachkliniken Wangen im Allgäu (Kreis Ravensburg) zusammen mit der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Werbung für das erweiterte Angebot zu machen. Die Kliniken Wangen sind die größte in ihrer Art im Südwesten und gelten in der Branche als vorbildlich. Hier wird jedes Jahr 1600 Kindern und Jugendlichen im Alter bis zu 18 Jahren beigebracht, wie sie sich ausgewogen ernähren. Sie wählen ihre Nahrung selbst aus, kochen auch für sich. Kalorienzählen ist verpönt, Verbote gibt es keine. Nur die Menge der Nahrung ist begrenzt.

Joggen, Ball spielen und Trampolin springen

Die Patienten joggen jeden Morgen eine halbe Stunde, spielen Ball, springen auf dem Trampolin oder machen Wassergymnastik. Sie erhalten nicht nur eine voll umfängliche medizinische und therapeutische Betreuung, sie gehen auch in eine spezielle Schule für Kranke, in der sie ihren Schulstoff lernen und sich auf ihre Abschlüsse vorbereiten können. „Wir selbst sind zwar auf Monate hinaus ausgebucht, aber wir wollen auf dieses erweiterte Angebot aufmerksam machen“, erläutert Klinikleiter Alwin Baumann. Bundesweit gebe es genügend freie Plätze für Rehabilitationsmaßnahmen. Manche Einrichtungen seien chronisch unterbelegt.

Doch die Kostenträger zieren sich. „Wer hier spart, der spart am falschen Eck“, mahnt Hubert Seiter, der Vorsitzende der Geschäftsführer der DRV-Baden-Württemberg und ermuntert die anderen Kostenträger, Kuren und Rehamaßnahmen schneller und großzügiger zu genehmigen. Denn wer jetzt nicht in die Gesundheit dieser Kinder und Jugendlichen investiere, schaffe künftige Leistungsempfänger statt Beitragszahler, erläutert Seiter.

800000 Kinder und Jugendliche krankhaft übergewichtig

Professor Reinhard Holl, Experte an der Universität Ulm, zitiert Statistiken, nach denen bundesweit 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig sind, von denen rund 800 000 als adipös – also krankhaft übergewichtig – eingestuft werden müssen. „Es handelt sich aber um ein gesellschaftliches Problem, wenn wir bedenken, dass 60 bis 70 Prozent aller Erwachsenen zu viel wiegen und davon wiederum 20 Prozent chronisch krank sind“, sagt Holl.

Maria will in Wangen zehn Kilogramm abnehmen. Sechs hat sie schon geschafft. Sie weiß, dass sie auch weiter machen muss, wenn die Leitplanken der Klinik fehlen. Sie ist zuversichtlich, dass sie es schaffen wird. Sie hat schon ihren Realschulabschluss gepackt. Im Herbst fängt sie eine Ausbildung als Erzieherin an. Auch mit dem Boxtraining fängt sie wieder an.