In den Tagen um den 9. November 1938 brannten in Nazideutschland die Synagogen. Das ist Geschichte, doch auch heute wieder reißen Furcht, Hass und Hetze Risse in die Gesellschaft.

Der 9. November gilt als der Schicksalstag der Deutschen. Das Jahr 1918 brachte die Republik, 1989 fiel die Mauer. 1923 flackerte mit dem Hitler-Putsch das nationalsozialistische Unheil auf, doch konnte die Flamme ausgetreten werde, wenn auch, wie sich bald zeigen sollte, nur vorläufig. Am 9. November 1938 stand die NS-Diktatur in voller Blüte; sie erfreute sich einer überwältigenden Zustimmung in weiten Teilen der Gesellschaft. Die Verrohung der Sitten, die Brutalisierung des öffentlichen Lebens schritt voran. Wo nicht blanker Fanatismus regierte, zeigte sich entschlossenes Mitläufertum oder ergebenes Mitmachen.

 

Pogrom wurde lange als "Reichskristallnacht" verharmlost

Der lange als „Reichskristallnacht“ verharmloste Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November, der sich in Wahrheit über etwa eine Woche erstreckte, markiert in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts den endgültigen Zivilisationsbruch und damit den Übergang von der Ausgrenzung und Entrechtung der Juden in Deutschland zu ihrer Auslöschung in ganz Europa. Fast alle Synagogen und Bethäuser in Reichweite der NS-Herrschaft wurden in jenen Novembertagen zerstört, insgesamt wohl mehr als 1400. Die Zahl der Toten schwankt. Nach damaligen NS-Angaben lag sie bei 91, tatsächlich aber dürften mehrere Tausend Menschen zu Tode gekommen sein – einschließlich der 300 Suizide und der Opfer unter den rund 30 000 Juden, die in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert wurden.

Reichspogromnacht als Reise in dunkle Vergangenheit

Der Blick zurück auf die Novemberpogrome galt bisher als Reise in eine dunkle Vergangenheit: ein düsteres, aber abgeschlossenen Kapitel. Eine solche Barbarei, das schien sicher, passe nicht in die moderne westliche Welt, der sich die Bundesrepublik zurechnet. Dennoch ist angesichts der Polykrisen unserer Zeit eine tiefe Verunsicherung zu spüren. Angst kann zu Resignation, aber auch zu Aggression führen.

Manche munkeln schon über „etwas Neues“, das sich politisch anbahne. So schreibt Veith Selk, Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Darmstadt in dem Buch „Moralische Gentrifizierung“ in pseudoneutralem Stil, die liberale Demokratie sei dem historischen Wandel nicht entzogen, „vielmehr entwickelt sie sich in einem allmählichen Transformationsprozess in etwas Neues, Nachdemokratisches“. Im selben Band befindet der Siegener Sozialwissenschaftler Olaf Jann: „Wut ist ein aufrichtiges Gefühl.“ Oder komplizierter formuliert: „Dissonante konfrontative Emotionen“ seien kein persönliches Fehlverhalten, vielmehr verdichteten sich diese „im Kontext beschleunigter gesellschaftlicher Transformationen“. Ein solcher Veränderungsdruck war in den Jahren der Weimarer Republik und der NS-Diktatur gegeben. Jetzt dient er zur kaum verbrämten Ermächtigung zu Wut, Hass und Hetze.

Goebbels wollte die Wälder für Juden sperren

Der Novemberpogrom 1938 war eingebettet in eine eskalierende Entrechtung der Juden. Sie durften fortan keine Geschäfte mehr betreiben, die letzten jüdischen Firmen wurden enteignet. Als „Schadensersatz“ für die Schäden der Pogromtage wurde der jüdischen Bevölkerung eine Kontribution von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Ihre Ansprüche auf Versicherungsleistungen verfielen dem Staat. Ihre Freizügigkeit wurde eingeschränkt. Hitlers Chefpropagandist Joseph Goebbels wollte sogar die Wälder für sie sperren („Heute laufen Juden rudelweise im Grunewald herum. Das ist ein dauerndes Provozieren . . .“) Und so weiter und so fort.

Den Anlass für den Pogrom gab ein Attentat. Am 7. November schoss der 17-jährige aus Hannover stammende Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Er tat dies aus Verzweiflung über das Schicksal seiner jüdisch-polnischen Familie. Zu jener Zeit zeigte sich das NS-Regime noch daran interessiert, möglichst viele Juden zum Auswandern zu zwingen. Dies aber stieß auf den wachsenden Widerstand potenzieller Einwanderungsländer. Die Schweiz erwirkte, dass die Pässe jüdischer Deutscher mit einem „J“ gestempelt wurden, um sie an der Einreise zu hindern.

Das polnische Parlament erließ Ende März 1938 ein Gesetz, mit dem es möglich wurde, allen länger als fünf Jahre im Ausland lebenden Polen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Reich befürchteten die Polen eine Rückkehr von 20 000 Juden, die sie keineswegs aufnehmen wollten. Auch in Deutschland lebten viele Juden polnischer Herkunft. In der „Polenaktion“ verhafteten die deutschen Behörden 17 000 Juden und brachten sie an die polnische Grenze. Darunter befanden sich der nachmalige Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki – und die Familie von Herschel Grynszpan. Doch die Grenzer in Polen versperrten den Weg, weshalb die Menschen tagelang im Regen und ohne Nahrung oder Unterkunft im Niemandsland herumirrten. Ein Teil kam durch, ein anderer wurde schließlich mittellos zurück ins Reich gelassen. Solche „Pushbacks“ gab es freilich auch an den deutschen Grenzen zur Schweiz oder zu Frankreich. Vergleichbares wie den polnischen Juden widerfährt aktuell 200 000 Afghanen, die von Pakistan in ihre Heimat abgeschoben werden.

Nach dem Attentat auf den Diplomaten vom Rath hetzte die NS-Presse gegen die Juden. Der „Völkische Beobachter“ drohte, die Schüsse von Paris zögen eine neue Einstellung der Deutschen zur Judenfrage nach sich. Am späten Nachmittag des 9. November erlag vom Rath im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Hitler und Goebbels saßen derweil beim Treffen der „alten Kämpfer“ in München. Goebbels notierte am 10. November rückblickend in seinem Tagebuch über die Ereignisse: „Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.“ Goebbels glaubte, sich vor Hitler bewähren zu müssen. War er doch in Liebeshändel verstrickt und galt überhaupt als übergriffiger Lustmolch. Die Scheidung von seiner Frau Magda war ihm von Hitler allerdings verboten worden.

Horst-Wessel-Lied in der Synagoge

Überall im Reich brannten die Synagogen, wurden Friedhöfe geschändet, Menschen gequält und Geschäfte zerstört. Auch im Südwesten. In Baden-Baden wurden am Morgen des 10. November etwa 60 jüdische Männer in Marschkolonne zur Synagoge geführt, in der sie ohne Kopfbedeckung Platz zu nehmen hatten. Einer von ihnen musste aus „Mein Kampf“ vorlesen, danach wurde das Horst-Wessel-Lied einstudiert. Am Nachmittag brannte das Gotteshaus. Die meisten der Männer kamen nach Dachau.

Der Novemberpogrom fand im größeren Teil der Gesellschaft keine Billigung. Die stille Ablehnung bezog sich nach den Zeitzeugnissen weniger auf das Leid der Juden. Vielmehr zeigte sich das bürgerliche Ordnungsempfinden gestört. Unter den Bedingungen der Diktatur wagte es so gut wie niemand, die Stimme zum Protest zu erheben. Wenige fragten, wohin die Juden gebracht wurden. Und auch nach dem Weltkrieg hielt das Schweigen an. Der Philosoph Hermann Lübbe bewertete noch in den 1980er Jahren diese Haltung der Schweigsamkeit als förderlich für die Etablierung der Demokratie in der Bundesrepublik. Insofern erschien es folgerichtig, dass er sich auch an seine eigene NSDAP-Mitgliedschaft nicht zu erinnern vermochte.