Reid Anderson verabschiedet sich als Ballettintendant „Stuttgart bleibt mein Zuhause“

Rekordeinnahmen und bei jeder Vorstellung ein volles Haus? Wovon andere Intendanten träumen, ist für Reid Anderson Alltag. Nach 22 Jahren verabschiedet er sich nun vom Stuttgarter Ballett, von Ruhestand kann trotz Kreuzfahrtplänen aber keine Rede sein.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Eigentlich ist Reid Anderson am liebsten im Ballettsaal. Aber nicht an einem Tag wie diesem, wenn unterm Dach des Stuttgarter Opernhauses die Hitze lastet und die Tänzer frei haben. Fragen beantwortet Reid Anderson deshalb lieber im klimatisierten Büro.

 
Herr Anderson, ob Auslastung oder Uraufführungen - unter Ihrer Intendanz hat das Stuttgarter Ballett für tolle Zahlen gesorgt. Was macht Sie besonders stolz?
Der Zuspruch des Publikums! Als Ballettdirektor in Toronto musste ich immer sehr auf die Auslastung aufpassen, sie war unser Brot und Butter. In Stuttgart war das zum Glück anders. Ein Abend wie die „Fantastischen Fünf“ mit fünf Uraufführungen wäre in Nordamerika unmöglich; hier war er vor der Premiere ausverkauft. Ich bin sehr stolz darauf, dass das Stuttgarter Ballett fast immer zu annähernd hundert Prozent ausgelastet ist. Hier konnte ich Bekanntes von Ashton, Balanchine und Cranko bringen oder ganz Neues – und ich hatte immer ein Publikum dafür.
Sie stehen seit Kindesbeinen selbst auf der Tanzbühne und sind seit einem halben Jahrhundert im Theater zu Hause. Was werden Sie im Ruhestand besonders vermissen?
Ich werde dieses Gebäude, das Stuttgarter Opernhaus, vermissen, in das ich 1969 als 19-Jähriger gekommen bin. Hier hat mein Leben als Tänzer angefangen! Bei meiner Rückkehr nach Stuttgart als Ballettdirektor 1996 hier hereinzulaufen, der Geruch dieses Theaters: Das war unglaublich. Mit dem Ballett selbst bleibe ich verbunden, weil ich als Coach auf der ganzen Welt weiterhin John Crankos Ballette einstudieren werde. Aber Stuttgart bleibt mein Zuhause, ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders in der Welt zu wohnen.
22 Jahre an der Spitze des Stuttgarter Balletts – was war im Rückblick in Ihren Augen die größte Veränderung in dieser Zeit?
Von Beginn an habe ich daran gearbeitet, die John-Cranko-Schule wieder direkt mit der Kompanie zu verbinden. Es war schon John Crankos Traum, eigene Tänzer auszubilden, deswegen wollte er unbedingt diese Schule haben. Mir ist geglückt, dass heute zwei Drittel der Tänzer in der Kompanie von dort kommen. Schnell war mir klar, dass die Schule unter Bedingungen arbeitet, die in keinster Weise ihrem Ruf entsprechen. Also habe ich eine Kampagne für ein neues Gebäude gestartet. Dass ich zwanzig Jahre gebraucht habe, um an dieses Ziel zu kommen, ist eine andere Geschichte.
Sind Sie jeden Tag gern Intendant gewesen?
Ja, weil es mir großen Spaß macht, etwas zu gestalten: Tänzer zu fördern, eine Schule zu entwickeln, Ballettdirektoren aufzubauen, Choreografen zu entdecken. Ich bin kein Mensch, der immer zurückblickt, ich lebe in der Gegenwart und denke nach vorn. Stars mit viel Geld einzukaufen, hat mich nie interessiert. Viel besser ist nun zu erleben, dass Künstler, die ich aufgebaut habe, in der ganzen Welt Erfolg haben. So etwas zu etablieren war von Beginn an mein Anliegen.
Sie werden der letzte Intendant gewesen sein, der als Tänzer persönlich mit John Cranko, dem Gründer des Stuttgarter Balletts, zusammengearbeitet hat. War das für Sie eine besondere Verpflichtung?
Am Anfang nicht, da habe ich gar nicht an so etwas gedacht. Aber mein Leben ist geprägt von der Stadt Stuttgart, dem deutschen Theatersystem, von meiner Beziehung zu John Cranko. Ich war dabei, als er choreografierte, ich habe in allen seinen Stücken in vielen Rollen getanzt. Wenn ich nun zurückblicke, erkenne ich, dass ich alles, was ich 1996 nach Stuttgart zurückgebracht habe, von ihm gelernt hatte. Ich habe vier Jahre lang mit meinem Lebenspartner Dieter Gräfe mit John Cranko zusammengewohnt. Wir kennen niemand anderen, der so eng mit ihm verbunden war. Nach Crankos Tod konnte ich seinen Namen zehn Jahre nicht aussprechen. Aber als ich Ballettdirektor wurde, habe ich immer öfter an ihn gedacht.
Muss man das alles kennen, um diese Kompanie leiten zu können?
Nein, überhaupt nicht. William Forsythe zum Beispiel kam in die Kompanie, als John Cranko schon tot war, ebenso Tamas Detrich, der mit mir als Erster Solist getanzt hat – aber es ist so, als ob sie John Cranko persönlich gekannt hätten. Das hat mit Werten zu tun, mit der gemeinsamen Geschichte und wie wir sie erzählt haben. Das ist eine Kettenreaktion, diese Kette ist immer heil geblieben. Man kann Stuttgart verlassen, aber Stuttgart verlässt einen nie.
Wenn Sie vergleichen, wie Sie als junger Tänzer hier starteten und heute die Absolventen der Cranko-Schule erleben: Ist da ein großer Unterschied?
Ja, riesig. Wenn heute junge Tänzer in die Kompanie kommen, dann sind die nach einer fantastischen Ausbildung viel reifer als wir früher. Die sind selbstbewusster, wissen, was man von ihnen erwartet, und können sofort auf die Bühne kommen. Verstärkt wird das durch die osmotische Nähe zur Kompanie; in der zweiten Besetzung von „Lulu“ waren zum Beispiel sechs junge Männer aus der Schule. Sie haben keine Berührungsängste und sind so talentiert, dass man sie sofort einsetzen kann.
Sie kamen 1969 als junger Mann von London nach Stuttgart – ein Kulturschock?
Ja, total. Schon London war für mich als Kanadier ein Schock: Wow, alles so alt und schmutzig; jeden Morgen hing schwarzer Nebel in der Stadt. Stuttgart war viel provinzieller, die Straßenbahn fuhr noch auf der Königstraße, und die Läden schlossen über Mittag. Das hatte auch Charme, sodass man kaum gemerkt hat, wie die Löcher, die der Krieg gerissen hatte, mit hässlichen Gebäuden gestopft wurden. Klar, die Leute mussten irgendwo wohnen. Heute finde ich es unfassbar, wenn man Städtebau immer noch nach diesen Kriterien betreibt. Aber ich plädiere nicht dafür, die Zeit zurückzudrehen. Man darf nicht vergessen: Am Anfang war das Stuttgarter Ballett eine B-Truppe, eine unwichtige Kompanie an einem Haus mit einer A-Oper, die war Königin, das Ballett hatte vielleicht drei Vorstellungen im Monat. Das war eine andere Welt.
Cranko steht für den Aufbau des Stuttgarter Balletts, Glen Tetley für eine neue, moderne Bewegungsqualität. Marcia Haydée hat mit Neumeier, van Manen und Béjart das Repertoire geweitet. Wofür wird einmal die Ära Anderson stehen?
Ich habe versucht, Menschen aufzubauen. Es sind die Menschen, die das Ganze vorantreiben – als Tänzer, Choreografen, Lehrer. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht auch Ballettdirektoren aufbauen kann, und zu allen gesagt, von denen ich dachte, dass sie das Zeug für diesen Job haben, dass sie mit Fragen zu mir kommen können. Ganz wichtig ist mir auch Qualität: Ich wollte die besten Künstler haben, die mit den Tänzern arbeiten. Ich habe bei Choreografen immer darauf geachtet, wie sie mit den Tänzern umgehen und dass die Kompanie von ihnen etwas lernen kann, von einem Mauro Bigonzetti und Kevin O’Day. Auch war mir wichtig, dass meine Choreografen und Tänzer als Gäste draußen erfahren, wie andere Kompanien sind. Sie tragen Stuttgart in die Welt, bringen Eindrücke mit und sehen, wie gut sie es hier haben.
112 Uraufführungen von 35 Choreografen gab es in Ihrer Intendanz. Wenn Sie zum Abschied ein Best-Of-Programm zusammenstellen müssten, wie sähe es aus?
Das geht nicht, es waren einfach zu viele. Zu viele, die gut waren, und auch viele, die nicht so gut waren. Man lernt nie aus! Vor zwei Jahren zu meinem 20-Jahr-Dienstjubiläum hatte ich ein Programm mit Ausschnitten aus Uraufführungen zusammengestellt. Manches, was ich damals gesichtet hatte, hat mich nachdenklich gemacht. Aber im Nachhinein weiß man, dass Fehler sein müssen, um einen weiterzubringen. Man ist nicht plötzlich oben, es geht rauf und runter, man fällt auf die Nase. Aber dann muss man wieder aufstehen und weitergehen. Das Leben ist voller Überraschungen, ich habe versucht, sie ein wenig zu kontrollieren.
Gibt es eine choreografische Entdeckung, auf die Sie besonders stolz sind?
Ja, Marco Goecke. Der war einfach da, kein Suchen. Er kam hier zur Tür herein und hatte „es“, das besondere „Etwas“. Mir war das von Anfang an klar.
Und eine Entscheidung, die Sie bis heute glücklich macht?
Aus Kanada wegzugehen und als Direktor nach Stuttgart zurückzukommen war für mich die wichtigste Entscheidung meines Lebens. Als Tänzer hatte mein Leben in Stuttgart auf einem hohen Niveau begonnen und mit einem starken Glauben an die Kunstform Ballett. Aber ich hätte meinen Job als Intendant in den vergangenen 22 Jahren nicht so machen können, wenn ich nicht zehn Jahre weg gewesen wäre und anderswo Erfahrung gesammelt hätte. Mein Leben war wie ein Kreis, und ich war immer zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.
Sie haben 2010 das pädagogische Projekt „Ballett jung“ etabliert, um ein neues Publikum heranzubilden. Wenn Sie heute in ihr Publikum schauen: Macht es Ihnen Angst, dass da doch viele ältere Menschen sitzen?
Nein, ich sehe auch sehr viele jüngere, da ist ein guter Mix – auch gesellschaftlich. Das ist nicht nur in Stuttgart so. Im Ballett geht es heute sehr viel mehr ums Tanzen und nicht wie früher um Technik und das Wissen darum, deshalb fühlen sich nicht mehr allein Ballettfanatiker angesprochen. Ich habe auch gelernt, dass es keinen Sinn hat, sich mit „speziellen“ Programmen bei jungen Leuten anzubiedern. Das Publikum muss kommen, weil ihm gefällt, was es sieht. In Toronto hatten wir „Jeans and Beer“-Abende mit jungen Stücken. Die waren kostenlos und kamen ganz gut an, bewirkten aber nicht, dass sich die jungen Leute auch etwas Klassisches angeschaut hätten.
Was wird die größte Herausforderung für Ihren Nachfolger Tamas Detrich sein?
Die Renovierung des Opernhauses. Es ist ein Hammer, dass über Sanierung und Interimsspielstätte nur rein faktisch gesprochen wird. Aber die Auswirklungen auf die Kunst sind groß. Eine Ballettkompanie darf zum Beispiel nicht zu lange auf Tournee sein, sonst verliert sie womöglich ihr Publikum zu Hause. Und kein richtiges Zuhause, weniger Vorstellungen zu haben, könnte die Tänzer auch vertreiben. Ihre Karriere ist zu kurz, um die besten Jahre zu verlieren. Immerhin wird das neue Gebäude für die Schule auch der Kompanie neue Möglichkeiten eröffnen.
Haben Sie schon Pläne für Ihre erste Saison als Rentner?
Ich werde viele Cranko-Ballette einstudieren und gar nicht so oft in Stuttgart sein. Vor allem möchte ich endlich etwas machen, weil ich es will, und nicht, weil ich es muss. Ich möchte zum Beispiel die Welt sehen, ohne dass ich auf Tournee bin. Bisher musste ich, was meine touristischen Ambitionen angeht, immer zwischen Training, Proben und Vorstellung Kompromisse eingehen. Jetzt kann ich endlich irgendwo hingehen und frei entscheiden.
In welcher Ecke der Welt werden Sie damit anfangen?
In Norwegen. Ich habe oft im Norden gearbeitet und kenne die großen Städte; jetzt will ich auf einer Kreuzfahrt die Fjorde sehen. Ich freue mich auch sehr darauf, mehr Zeit für mein Privatleben zu haben und freier zu sein von Stress und Verantwortlichkeiten. Dass meine Beziehung über all die Jahre so stabil war, hat mir den Rücken und den Kopf freigehalten für meine Arbeit.
Zu Ihrem Abschied sagt das Stuttgarter Ballett nicht leise Servus, sondern haut auf die Pauke mit einer Anderson-Festwoche. Los geht’s an diesem Freitag im Kino. Wie kam es zu der seit Jahren von Ihnen gewünschten Aufzeichnung von „Romeo und Julia“?
Es war lange mein Traum, die großen Handlungsballette von John Cranko mit der heutigen Kompanie verfilmen zu lassen. Ja, ich musste etwas warten, aber jetzt dank der Initiative von Ernst Buchrucker von der Produktionsfirma Unitel, des Engagements von Joachim Lang vom SWR sowie der Unterstützung des SWR und Arte ist dieser Traum wahr geworden. Zuerst kommt der Film ins Kino, dann ins Fernsehen, und dann wird es eine DVD geben – auch dies ein lang gehegter Traum von mir. Am meisten freut mich, dass die Festwoche auf diese Weise mit genau dem Stück startet, mit dem ich vor 22 Jahren meine Intendanz eröffnet habe: mit „Romeo und Julia“! So schließt sich noch ein Kreis.

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