Die Zahl der Mutter-Kind-Kuren steigt stark. Ein Grund dafür ist die wachsende berufliche Belastung. Der Versuch, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen, macht den Alltag der Betroffenen oft zum Dauerstress.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Natürlich ist das Leben sehr anstrengend gewesen nach der Geburt des zweiten Sohnes. Die Familie lebte im Ausland, wo der Mann als Lehrer arbeitete. Nicht nur der heute vier Jahre alte Sohn, auch der Zweitgeborene leidet an Neurodermitis. Das machte die Nächte und Tage noch unruhiger, als sie dies für Eltern mit Kleinkindern ohnehin oft sind. Dennoch ist es Gerda Klumpp (Name geändert) lange nicht klar gewesen, wie es wirklich um sie stand. „Zuerst habe ich nicht gemerkt, dass ich mit meinen Kräften am Ende war“, sagt die 34-Jährige. Keine Erholung nach der Geburt, keine Angehörigen in der Nähe, keine Chance auf Unterstützung in dem nordafrikanischen Land. „Peu à peu bin ich in eine Erschöpfungsdepression gerutscht“, erinnert sie sich. Inzwischen ist Gerda Klumpp zurück in Deutschland. Gegenwärtig macht sie eine Kur im oberschwäbischen Bad Wurzach, in einer Klinik des Müttergenesungswerks.

 

Mag die Problemlage auch Besonderheiten aufweisen: Gerda Klumpp ist kein Einzelfall. Mal sind es die Belastungen im Beruf, mal Schwierigkeiten in der Partnerschaft, mal die Last des Alleinerziehens, mal sind es die Eltern, die neben der Kinderbetreuung auch noch gepflegt werden müssen, oder es sind einfach die prekären sozialen Verhältnisse, dass Mütter mit Kindern in die Knie gehen. „Es kommen immer mehr erschöpfte Frauen in unsere Beratung“, sagt Rainer Metzger, der Leiter der Kreisdiakoniestelle in Degerloch. „Das hat im letzten Jahr schon deutlich zugenommen und in diesem Jahr noch einen besonderen Drive bekommen“, erzählt Metzger.

Landesweit ein Plus von 45 Prozent

Diese Entwicklung lässt sich anhand eines Indikators belegen: den Mutter-Kind-Kuren. Im Bereich der AOK Stuttgart-Böblingen stieg die Zahl der bewilligten Mutter-Kind-Kuren seit dem Jahr 2010 um 16 Prozent, im ganzen Land lag die Zunahme in diesem Zeitraum aber sogar bei 45 Prozent. Und im laufenden Jahr verzeichnet die AOK auch für Stuttgart bei den Mutter-Kind-Kuren bereits bis Mai „eine deutliche Steigerung“ von 17 Prozent.

Das Müttergenesungswerk stellt in seinem aktuellen Datenreport fest: In den vergangenen Jahren sind Mütter insbesondere wegen psychischen Störungen in die Kur gegangen. Im Jahr 2003 hatten diese bei den Erkrankungen der Frauen noch einen Anteil von 49 Prozent, im vergangenen Jahr sind es 82 Prozent gewesen. Dazu zählen Erschöpfungszustände bis hin zu einem Burn-out, Angstzustände, Schlafstörungen oder depressive Episoden.

Der Druck nimmt zu

Angelika Klingel, die Geschäftsführerin der drei evangelischen Mütterkurheime in Württemberg, hat dafür eine Erklärung: „Die Mehrfachbelastung vieler Mütter steigt“, hat Klingel festgestellt, die auch Vorsitzende des Landesausschusses Müttergenesung und des Landesfrauenrats ist. Der zunehmende Druck ist auch eine Folge der wachsenden Erwerbstätigkeit von Müttern, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen müssen. Das bedeutet oftmals eine andauernde Zerreißprobe.

Das jedenfalls geht aus den Erhebungen des Müttergenesungswerks hervor. So ist in den Mutter-Kind-Kuren der Anteil der Frauen, die Vollzeit arbeiten, seit 2003 um sechs auf 22 Prozent gestiegen, die der Teilzeitbeschäftigten um 16 auf jetzt 42 Prozent. In eine ähnliche Richtung weisen die Angaben der Betroffenen zu Einkommen und Bildungsabschlüssen: beide Werte haben merklich zugenommen. „Wir haben zurzeit die am besten ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten“, sagt Angelika Klingel. Die Frauen seien heute nicht nur als Fachkräfte gefragt, „sie wollen und müssen oft auch arbeiten“. Und noch eine gesellschaftliche Entwicklung bildet sich in den Zahlen des Müttergenesungswerk ab: Der Anteil der Alleinerziehenden ist nochmals gestiegen – um sechs auf 34 Prozent.

„Das ist eine echte Frustveranstaltung“

„Die Doppelbelastung fordert ihre Opfer“, sagt Markus Klett, der Vorstand der Stuttgarter Ärzteschaft. Im Beruf werde immer mehr verlangt, alles werde hektischer, auch durch den Einsatz elektronischer Medien, der „Zeit- und Problemlösungsdruck“ in Beruf und Familie wachse. „Das bleibt nicht in den Schuhen stecken, das führt zu Erschöpfungssituationen“, sagt Klett. Deshalb hält es der Mediziner längst für geboten, dass die Kassen ihre langjährige restriktive Bewilligungspraxis bei Mutter-Kind-Kuren aufgeben. „Das ist eine echte Frustveranstaltung für die Ärzte wie für die Betroffenen“, sagt der Vorstand der Ärzteschaft. Zum Zuge sei oft nur gekommen, wer zum Sozialgericht ging.

Ausgebuchte Häuser

Etwas geändert hat sich die Lage mit der Gesundheitsreform 2007. Seither gehören Mutter-Kind-Kuren zur Pflichtleistung der Kassen. Dennoch fanden diese weiter viele Gründe, Anträge abzulehnen. Erst seit dem Vorjahr, nach einer Intervention des Bundesrechnungshofes wegen hoher Ablehnungsquoten von bis zu 60 Prozent bei manchen Kassen, hat sich diese Praxis geändert. Heute liege die Bewilligungsquote im Land bei 80, in Stuttgart bei 90 Prozent, heißt es bei der AOK. Dieser Wert ist bei anderen Kassen ähnlich. Die Folge davon: „Im Juni waren die Häuser, in die wir vermitteln, ausgebucht“, sagt Rainer Metzger von der Diakoniestelle in Degerloch.

In der Kur bekommen die Frauen Physiotherapie, aber auch psychotherapeutische Angebote, es geht um Strategien, wie der Alltag mit den Kindern besser bewältigt werden kann. „Das Wichtigste ist oft, die Frauen von ihren Erwartungen herunterzuholen“, sagt Angelika Klingel. Dass diese nicht immer perfekt sein wollen als Mutter oder bei der Arbeit. Und nicht alles, was die Familien ihren Kindern vom Babyschwimmern bis zum Ballett bieten wollten, müsse sein. Und die Mütter müssten mehr Aufgaben an ihre Männer abgeben. „Die wollen auch etwas machen“, sagt Klingel.

Hoffnung auf flexible Arbeitszeit

Marketing-Managerin Gerda Klumpp hofft, dass sie bald eine Stelle findet, bei der sie flexibel ist und vor allem nicht Vollzeit arbeiten muss. „Ich will meine Kinder auf jeden Fall nicht komplett abgeben.“