Wie kommen Ausländer in der Region klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: Juanita Cárdenas und Diego Oróstegui aus Kolumbien.

Stuttgart - Es gab heiße Schokolade, als sich Juanita Cárdenas Kling und Diego Fernando Jiménez Oróstegui an einem Dezembertag vor zehn Jahren das erste Mal trafen. Sie feierten mit kolumbianischen Freunden in Stuttgart Noche de las Velitas, ein Lichterfest zu Ehren der Jungfrau Maria. Überall brannten Kerzen. Die Schokolade war dickflüssig, mit viel Kakao und wenig Zucker, wie es für ihre Heimat typisch ist. Seitdem erinnert Chocolate sie immer ein wenig an ihr Kennenlernen.

 

Wieder ist es Dezember, und die beiden kochen in ihrer Wohnung im Stuttgarter Westen Schokolade für den Gast. In einem silbernen Kännchen schmilzt ein dunkler Barren in heißer Milch. Juanita tunkt einen Holzquirl ein und reibt ihn zwischen ihren Handflächen. Kanne und Quirl sind aus keinem kolumbianischen Haushalt wegzudenken – und waren in Deutschland nirgends zu bekommen. Auch die ungesüßte Schokolade haben sie vom letzten Kolumbienurlaub mitgebracht. Auf der anderen Platte brutzelt ein Fladen, den Juanita mit Butter bestrichen hat. Arepas aus Mais oder Maniok werden in Kolumbien zu fast allen Mahlzeiten gegessen. Seit der Laden mit lateinamerikanischen Waren zugemacht hat, macht sie den Teig selbst.

An der Küchenwand pinnt eine I-love-Stuttgart-Postkarte. Für Juanita und Diego ist die Stadt schon lange zur neuen Heimat geworden. Beide leben seit 15 Jahren in Deutschland, besitzen einen deutschen Pass. Geht es um ihre Jobs, sie ist Architektin, er Elektroingenieur, sprechen sie deutsch miteinander. „Wir denken bei der Arbeit auf Deutsch, da fällt der Wechsel ins Spanische schwer“, sagt Juanita Cárdenas.

Mit einem Schüleraustausch fing es an

Die Verbundenheit zu Kolumbien ist trotzdem nicht zu übersehen, wenn man durch ihre Tür tritt. An den Wänden hängen großformatige Ölbilder. Sie zeigen Fincas, bunte Boote, Alltagsszenen. Auf einem Bild flicht eine Frau im blauen Poncho vornübergebeugt einen Korb aus Stroh. Juanita malt in ihrer Freizeit in einem Atelier in der Nähe und lässt sich dabei von Fotografien aus ihrem Land inspirieren. „Man merkt, du kommst aus Lateinamerika“, bekam sie dort schon häufig zu hören, weil sie zu kräftigen Tönen tendiert. „Ich male auch deshalb, weil mir hier die intensiven Farben fehlen“, sagt die 37-Jährige. „Bei uns ist der Himmel blauer, das Grün satter.“

Sie und Diego haben früher in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá gelebt, die Elternhäuser lagen nur ein paar Straßenzügen auseinander. Es amüsiert die beiden, dass sie erst nach Deutschland auswandern mussten, um sich zu treffen. Bis sich ihre Wege in Stuttgart kreuzten, waren ihre Leben in ganz unterschiedlichen Bahnen verlaufen. Juanita besuchte in Kolumbien eine deutsche Schule, die ihr Großvater, ein Deutscher, gegründet hatte. Zu Hause sang sie „Stille Nacht“ unterm Baum und färbte an Ostern bunte Eier. „Ich bin für kolumbianische Verhältnisse zu deutsch“, sagt sie. „Ein wenig ernster und besonnener als viele Landsleute.“ Die hellbraunen Haare, der helle Teint, die blauen Augen: Auf den ersten Blick hält man sie nicht für eine Latina. Als Diego sie seinen Eltern vorstellte, dachten sie zuerst: Da hat er sich eine Deutsche angelacht.

Mit 16 kam sie für einen Schüleraustausch nach Baden-Württemberg. Sie dachte damals, alles über Land und Leute zu wissen. Doch die erste Überraschung wartete schon am Flughafen. Juanita war mit Hausangestellten groß geworden. Ganz normal, versichert sie, sei das in ihrer Heimat Kolumbien. Schon die Mittelschicht lasse dort für sich kochen, waschen und putzen. So hielt sie den Mann, der sie abholte, ganz selbstverständlich für den Chauffeur der Familie. „Erst in der Wohnung kapierte ich dann, dass das ja mein Gastvater war.“

Der erste Schnee

Ihr Deutsch war gut, doch zum Härtetest wurde der Gemeinschaftskunde-Unterricht. Sie besuchte eine Dorfschule in der Nähe von Herrenberg. Der Lehrer schwäbelte so sehr, dass Juanita bald aufgab und stattdessen die „Ähs“ in seinen Sätzen zählte.

Dann der erste Schnee! Die Mutter hatte ihr ein Paar gebrauchte gefütterte Stiefel eingepackt. Sie stürmte darin nach draußen – und stoppte abrupt, als der Schnee unter ihr knirschte. „Ich dachte, jetzt sind die alten Stiefel kaputtgegangen, anders konnte ich mir das Geräusch nicht erklären.“

In diesen vier Monaten, sagt sie, habe sie sich in Deutschland verliebt. Die Gastfamilie nennt sie heute ihre „deutschen Eltern“. Mit 22 kehrte sie zurück, um in Stuttgart Architektur zu studieren, und blieb.

Auch Diego, heute 41, kam als junger Mann nach Deutschland. Ein Praktikumsangebot beim Luft- und Raumfahrt-Unternehmen Thales hatte ihn gelockt. Im Gegensatz zu Juanita sprach er aber kein Wort der fremden Sprache. Einmal suchte er auf einem Stadtplan verzweifelt nach der „Einbahnstraße“. „Wörter und die Grammatik zu lernen fiel mir furchtbar schwer“, erinnert er sich. Doch die Arbeit sagte ihm zu, und so begann er ein Masterstudium in Darmstadt. Nebenher jobbte er weiter bei Thales. Seit seinem Abschluss arbeitet er für den Konzern, zunächst in der Nähe von Frankfurt am Main, dann in Mailand, Paris und seit einigen Jahren in Stuttgart.

Wenn nicht getanzt wird, ist es keine Party

Hier vermisst er vor allem das frische Obst, das es in Kolumbien an jeder Straßenecke zu kaufen gab. In jedem Restaurant standen mindestens fünf frisch gepresste Säfte zur Wahl. „Hier findet man keinen einzigen auf den Speisekarten.“ Als er mit Juanita zusammenzog, kauften sie als Erstes eine Orangenpresse. Auch im Supermarkt lief es nicht glatt. Anfangs wartete er vergeblich darauf, dass jemand den Einkauf in Tüten packte. Der Service ist in Kolumbien normal.

Juanita fehlen die ausgelassenen Feiern, vor allem aber das Tanzen. Wenn nicht getanzt wird, ist es keine Party, lautet ein kolumbianisches Sprichwort. Tanzkurse? Die beiden schütteln den Kopf. „Bei uns lernt man das so selbstverständlich wie laufen“, sagt Diego. Getanzt wird daher immer, wenn sich in Stuttgart eine Gruppe Kolumbianer trifft. Zu Salsa-Klängen wirbeln die Paare durch den Saal. Manchmal schnappt sich Diego auch die Tiple, eine kleine Gitarre, und stimmt eines der Lieder der Andenvölker an, die seit Generationen weitergegeben werden.

Unterschiede fallen ihnen vor allem dann auf, wenn sie Besuch bekommen. Juanitas Vater staunte über die deutsche Tracht, als sie ihm einmal ihr Dirndl vorführte – und war so begeistert, dass er sich gleich eine Lederhose kaufte. Diegos Vater wunderte sich über die laschen Sicherheitsvorkehrungen. Er konnte nicht fassen, dass sein Sohn das Auto einfach am Straßenrand parkte. „Du lässt es hier stehen? Ohne Alarmanlage? Und wer passt dann darauf auf?“, habe er gefragt. Vor dem Eingang zur ihrer Wohnung ging es weiter: „Habt ihr hier etwa keinen Wachmann?“ Die Kriminalitätsrate in der Heimat ist hoch, damit wächst auch das Bedürfnis nach Schutz.

Weihnachten in Bogotá

Um ihre Kultur anderen näherzubringen, engagiert sich Juanita im deutsch-kolumbianischen Freundeskreis, der landesweit etwa 500 Mitglieder zählt. „Integration muss von beiden Seiten funktionieren“, sagt sie. „Wenn die Menschen andere Kulturen kennenlernen, macht sie das offener.“ Sie leitet den Stuttgarter Freundeskreis, organisiert Feiern zum kolumbianischen Unabhängigkeitstag am 20. Juli oder zu Weihnachten.

Gibt es denn Unterschiede beim Christfest? Ein paar. Neun Tage vor Heiligabend beginnt die Novena de Aguinaldos, ein Brauch, nach dem die kolumbianische Familien jeden Abend zusammenkommen, um sich mit Gebeten und Liedern auf die Feiertage einzustimmen. Dann ist da noch die Sache mit dem Baum. In Kolumbien glitzern voll behangene Plastikbäumchen in den Fenstern. Auch Diego wollte beim ersten gemeinsamen Weihnachtsfest losziehen, um eine Kunststofftanne zu besorgen. „Ich kam ihm gerade noch mit einem echten Baum zuvor“, erinnert sich Juanita.

Dieses Jahr reisen sie über Weihnachten nach Bogotá. Heiligabend wollen sie ein paar Stunden bei Diegos und ein paar Stunden bei Juanitas Familie verbringen. An den Feiertagen rückt die Verwandtschaft aus allen Ecken des Landes an. Tanten, Onkel, Cousins, Nichten, Neffen, Enkel – schnell sei man da bei 60 Leuten pro Familie angelangt.

Juanita und Diego freuen sich darauf, alle wiederzusehen. Doch irgendwann ganz nach Kolumbien zurückzukehren, können sie sich nicht mehr vorstellen. Sie würden die Jahreszeiten vermissen, die langen Sommernächte, den geordneten Alltag, ihre deutschen Freunde, zählen sie auf. Es gebe nur eine Sache, die sie in diesem Land wohl nie verstehen werden: den deutschen Humor. „Da kommen wir an die Grenzen der Integration“, sagt Juanita. „Wir kapieren oft erst, dass jemand einen Witz gemacht hat, wenn alle anderen lachen.“