Das Ende einer Ära: Der Kinder- und Jugendpsychiater Reinmar du Bois wird in den Ruhestand verabschiedet. 18 Jahre lang hat er in Stuttgart gewirkt und ist weit über die Stadt hinaus bekannt geworden.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Nach seinem letzten offiziellen Arbeitstag als Ärztlicher Direktor Ende August ist Reinmar du Bois für ein paar Tage in sein Landhaus nach England gefahren. Dort blickt er von seinem Schreibtisch aus auf eine Wiese mit Kühen. Zwei Kilometer entfernt brandet der Atlantik gegen die Felsklippen der Grafschaft Dorset. Es ist der perfekte Ort, um Abstand zu bekommen.

 

Es sei schon ein „seltsames Gefühl“ gewesen, als er das letzte Mal die Bürotür hinter sich zugemacht habe, sagt du Bois. Nicht nur, dass er 18 Jahre lang die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart geleitet hat. Er war es ja erst, der die klinische Versorgung dieses Gebiets in der Landeshauptstadt aufgebaut hat. Aber „mit 65 Jahren ist Schluss“ – am Mittwoch wird Reinmar du Bois im Klinikum mit einer Feierstunde in den Ruhestand verabschiedet. Sein Nachfolger Michael Günter wird gleichzeitig offiziell eingeführt. Günter sei ein „enger Kollege“, das mache ihm den Abschied leichter.

Ein oft gefragter Experte

Mit dem gebürtigen Hamburger Reinmar du Bois verlässt eine Persönlichkeit mit deutschlandweitem Renommee das Klinikum. Auch bei den Medien ist der Psychiater überregional ein oft gefragter Experte gewesen – zum Beispiel zum Thema Missbrauch. „Es war immer mein Streben, für Akzeptanz, Zugänglichkeit und Nahbarkeit meines Fachs zu werben“, sagt du Bois. Das gehe nur, wenn man offen über psychische Probleme spreche.

Dazu passt eine Anekdote, die Reinmar du Bois am Rande erzählt. Als er vor vielen Jahren nach Stuttgart kam, gab es in der Landeshauptstadt gerade einmal 15 Betten für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, angesiedelt in einer Villa in der Mörikestraße. Wer ins Haus hinein wollte, musste klingeln. Die Tür war abgeschlossen. „Das war das erste, was ich geändert habe: Die Tür musste auf“, erinnert sich Reinmar du Bois.

Er hat sich immer für einen offenen Umgang mit der Psychiatrie eingesetzt. Diese Einstellung habe er von seinem großen Lehrer und Förderer Reinhart Lempp, einem der Pioniere der Kinder- und Jugendpsychiatrie, übernommen.

Immer mehr Selbstverletzer

In den vergangenen 18 Jahren hat es in seinem Fach viele Entwicklungen gegeben. So hätten sich die Ausdrucksformen, mit denen die Jungen und Mädchen ihre Not zeigten, über die Jahre geändert. Früher seien Essstörungen beispielsweise viel häufiger gewesen als heute, das habe sich verschoben: „Inzwischen gibt es mehr Selbstverletzter.“ In seiner Anfangszeit seien autistische Störungen noch eine Rarität gewesen, heute sei das ein Riesengebiet. Wie ist das zu erklären? „Die Anforderungen an soziale Kompetenzen sind höher geworden“, sagt du Bois, die „Schon- und Schutzmöglichkeiten“ für Sonderlinge hätten nachgelassen, die Gesellschaft sei weniger tolerant geworden, sagt du Bois.

Viel Arbeit mit den Eltern

Auch der Umgang der Eltern mit der Krankheit ihrer Kinder habe sich geändert. „Die Eltern gehen heute bereitwilliger auf uns zu“, sagt du Bois. Was Außenstehende gar nicht mitbekommen: „Wie viel Arbeit die Eltern uns machen.“ Die Mütter und Väter würden immer mittherapiert, in der Regel vom selben Therapeuten, der sich auch um das Kind kümmert. Er habe dabei immer versucht, den Eltern mit Verständnis zu begegnen, sagt der Vater zweier erwachsener Söhne.

Kinder schlagen ihre Eltern

Ein Fall einer besonders ungewöhnlichen Eltern-Kind-Beziehung ist du Bois besonders im Kopf geblieben – der Fall war auch Anlass für eine Studie. Ein betrunkener Jugendlicher hat seine Eltern geschlagen und diese ließen es sich gefallen. Du Bois’ Studie ergab, dass es häufiger vorkommt als weithin angenommen, dass Kinder ihre Eltern schlagen: Betroffen seien hauptsächlich Schulverweigerer, so der Psychiater.

In seiner Karriere ist der Ärztliche Direktor durchaus auch angeeckt: So hätten ihn Eltern von Kindern, die an dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS leiden, vor Jahren als Gegner der Stimulanzientherapie hingestellt. „Das hat mich damals geschmerzt, wir nehmen eine vermittelnde, sachliche Position ein“, sagt du Bois. So würden auch in seiner Klinik bei ADHS Medikamente eingesetzt, aber nicht immer. „Man muss auch mal gegen den Strom schwimmen“, sagt du Bois. Inzwischen hat sich die Meinung in der Gesellschaft gedreht. Die Stimulanzien werden deutlich kritischer gesehen als damals.

Amokläufe wissenschaftlich untersucht

Reinmar du Bois’ Name verbindet sich auch mit dem Thema Amoklauf, hier ist er einer der wenigen Experten. Er hat zu dem Phänomen auch wissenschaftlich publiziert. Er ist der Frage nachgegangen, wie das Risiko von jungen Leuten einzuschätzen ist, die mit einem Amoklauf drohen. 15 Jugendliche seien allein bei ihm nach solch einer Drohung innerhalb von zwei Jahren gelandet. Umso schmerzlicher muss für ihn gewesen sein, ausgerechnet beim Winnendenprozess gegen Jörg K. als Gutachter wieder abgesetzt worden zu sein. Es war herausgekommen, dass eines der überlebenden Opfer bei ihm in Therapie gewesen war. „Das war richtig dumm von mir“, räumt er ein.

Man kann sich den umtriebigen Psychiater nicht wirklich im Ruhestand vorstellen. Tatsächlich klingen die Pläne des Mediziners eher nach einem Unruhestand: Er will weiterhin als Gutachter an Familien- und Strafgerichten in Deutschland arbeiten. Auch Interviews wird er weiter geben. Und er will „endlich wieder schreiben“ – das letzte längere Buch ist von 2005. „Da muss unbedingt wieder etwas kommen“, sagt Reinmar du Bois.