Der Gegenwart entkommt keiner – auch nicht auf dem Land. Reinhard Kaiser-Mühlecker macht in seinem neuen Roman „Enteignung“ Unwirtlichkeit zum Ereignis.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Von der Luft aus betrachtet ordnet sich alles in Rechtecke aus dunklem und weniger dunklem Grün, Rapsgelb und Braun. Der Ich-Erzähler von Reinhard Kaiser-Mühleckers neuem Roman „Enteignung“ steigt immer wieder in ein Kleinflugzeug, um sich über die Gegend zu erheben, in der er seine Kindheit verbracht hat und in die er nun wieder zurückgekehrt ist. Als Reporter für große Zeitungen hat er zuvor die Welt erkundet, jetzt schreibt er für ein strukturkriselndes Lokalblatt Glossen – über die segensreiche Erfindung des Kühlschranks.

 

Denn es ist heiß, der Klimawandel hängt über der österreichischen Kleinstadt, die zwischen den Voralpen und den Niederungen der Gegenwart vor sich hin döst und in lastender Ereignislosigkeit all die Dinge ausbrütet, die man aus der Vogelperspektive für die provinztypischen Symptome der allgemeinen Erschöpfung halten könnte: das Aufkommen rechter Parteien, Menschen mit Burn-out-Symptomen und Abstiegsängsten, Reichsbürger, eine darbende Landwirtschaft, Sendemasten und eine zunehmende Schmucklosigkeit, umflort von künstlichen Balkonblumen und dem monotonen Rauschen der nahen, schnurgeraden Autobahn.

Doch der 1982 in Oberösterreich geborene Reinhard Kaiser-Mühlecker verbleibt in seinem siebten Roman nicht in der Vogelperspektive. Sein Ich-Erzähler zieht den Leser vielmehr aus nächster Nähe in eine merkwürdige Geschichte, deren Eigenart sich vielleicht am besten durch das bestimmen lässt, was sie nicht ist: kein Liebesroman, obwohl wechselnde und gewagte Affären eine tragende Rolle spielen; keine Sozialstudie, und doch gewinnt man messerscharf beobachtete Einblicke in die Krisenszenerien von Journalisten und Bauern; kein Zeitbild, aber alle aktuellen Problemherde hinterlassen ihre wie auch immer flüchtigen Spuren; kein Krimi, obwohl rätselhafte Todesfälle die Handlung säumen, der aus besseren Verhältnissen stammende Ich-Erzähler sich inkognito als Knecht verdingt und dabei Machenschaften auf die Schliche kommt, die zum Himmel stinken wie die Ausdünstungen von tausendeinhundert großen und kleinen Schweinen in dem Stall, den er aus ihm selbst nicht ganz durchsichtigen Motiven gegen den Redaktionsalltag vertauscht.

Zwischen all diesen ausgeschlagenen Möglichkeiten gewinnt das Schreiben dieses Autors Gestalt, das sich zur gegenwärtigen Literaturlandschaft in etwa so verhält wie ein Aussiedlerhof: Einsam, aber nicht aus der Welt, distanziert und doch von ergreifender Schönheit, gegenwärtig und doch mit einem Gehör für „sehr fremde, uralte Laute“, wie sie der Ich-Erzähler dort vernimmt, wohin es ihn aus ebenso dringlichen wie undurchsichtigen Beweggründen verschlagen hat.

Sehnsucht nach etwas Ganzem

Der unbehaglichen Überhitzung der Umwelt, unterbrochen von starken Regenfällen, unter denen sich die Gräber mit Wasser vollsaugen und nach oben wölben, setzt Kaiser-Mühlecker eine kühl temperierte Darstellung entgegen. „Mir war als sei ich zusehends nur noch von Wesen umgeben, aus denen, ohne dass sie es bemerkten, auf die ein oder andere Art und Weise das Leben wich“, heißt es einmal. Menschen verschwinden, wenn man ihre Nummer aus dem Smartphone-Speicher löscht, als hätte es sie nie gegeben.

Die Sehnsucht nach etwas Ganzem treibt den Hobbypiloten immer wieder in die Lüfte und in die Arme wechselnder Liebschaften. Aber es gibt nichts Ganzes. Die alleinerziehende Lehrerin, mit der er anbandelt, erweckt den Eindruck, „als wäre es ihr völlig egal, ob man mit ihr ins Bett geht oder nicht“. Was sie nicht daran hindert, auch mit dem um seine Existenz kämpfenden Landwirt eine Beziehung zu pflegen, bei dem sich der Erzähler später verdingt. Und auch für dessen Frau scheint die körperliche Liebe bloß „eine eigene Form von Arbeit zu sein, die man ohne Murren hinter sich zu bringen hatte“. Ihre Augen wirkten wie bemaltes Glas.

Was im Inneren dieser Menschen vorgeht, bleibt ein Rätsel. Kaiser-Mühlecker umschleicht es mit einer beweglichen, katzenhaften Sprache, deren große Linien sich gegen den Widerstand ungezählter parataktischer Einschübe behaupten. Ihre lauernde Klarheit steht in markantem Gegensatz zur Dunkelheit der Begierden wie der Vielschichtigkeit des Geschehens. Man folgt ihm gebannt, ohne es eigentlich zu verstehen. Genau das aber scheidet Literatur von Diskurs.