Manche Jamaikaner entscheiden sich für ein Eremitendasein, andere nutzen den kreativen Ruf ihrer ­Heimat für eine Weltkarriere. ­Armut und Gewalt wollen die ­Touristiker lieber verstecken.

Stuttgart - In seinem ersten Leben hat Rasta Fire in Little London als Automechaniker gearbeitet: „Dann habe ich mein Werkzeug zurückgelassen und bin aus der Stadt geflüchtet.“ Warum? „Manchmal ist es schwierig für den Rastamann, in der Stadt zu leben, vor allem ohne Geld.“ In den Bergen benötige er es nicht. „Da kann ich anbauen, was ich brauche!“

 

In den bewaldeten Canaan-Bergen im Bezirk Westmoreland hat er aus Brettern und Ästen eine offene Behausung auf Stelzen gebaut. „Bei Rasta geht es um Liebe“, sagt er. Die Jungs in Negril, die sich von den Klippen in Rick’s Cafe vor den Augen bewundernder Touristinnen und neidischer Touristen ins Meer stürzen, trügen zwar ihre Dreadlocks spazieren, aber sie seien keine Rastas, sagt er auch. Ein Rasta müsse etwas anbauen, immer. So wie er.

Die Bäume tragen Brotfrucht, Jackfrucht, Passionsfrucht, Avocado. Die Früchte seien sein Arzt, sagt Fire. Seit 30 Jahren sei er bei keinem mit Kittel mehr gewesen. Und das in seinem Alter. 140 sei er. Er zähle die Tage und die Nächte. „In der Stadt gibt es nur Probleme. Hier in Mutter Natur ist alles entspannter.“ Dann kocht er, und die Sojabohnen schmecken so echt nach Ziege, dass auch seine drei Hunde darauf abfahren. Je mehr Marihuana-Joints Fire anschließend raucht, desto euphorischer betont er die selbe rote Farbe des Blutes, das hinter seiner dunklen Haut ebenso wie hinter der hellen seiner Gäste fließt. „One Blood!“, singt er. Das Lied von Junior Reid ist vor 30 Jahren in Jamaika ein Hit gewesen. Damals war Rasta Fire noch kein systemkritischer Eremit, der Wanderungen für Touristen anbietet.

Retten durch Fressen

Die Touristen mögen den kauzigen Rasta und die Journalisten, denen seine Naturverbundenheit von der jamaikanischen Tourismusbehörde vorgeführt wird, finden ihn und seine Philosophie interessant. Deshalb möchten sie ein paar Tage später einen Abstecher zu Bob Marleys Grab in dessen Geburtsort Nine Mile unternehmen. Aber das geht nicht so kurzfristig. Denn dort drohen weitere Hanf-Hommagen, aber Jamaika möchte nicht als Kifferdestination rüberkomnen. Auch nicht als Reiseziel im Würgegriff der Armut und der Kriminalität. Darum bedarf es einiger Anstrengung, um ein paar Minuten lang durch die Orange Street fahren zu dürfen, das pochende Herz jamaikanischen Hauptstadtlebens, wo die raue Herzlichkeit jederzeit kippen kann. Die Armutshändler sind noch da, aber die Plattenläden gibt es natürlich nicht mehr.

Was das Jamaika Tourist Board (JTB) lieber herzeigt, ist die offensiv optimistische Ordnung in den Vielstern-All-inclusive-Resorts. Auf den Toiletten der Hotelkette Sandals zum Beispiel haben dienstbare Geister die Klopapierrollen mit himmelblauen Geschenkschleifchen verziert und sie so dem unmittelbaren Zugriff des Banalsten entzogen. Oder erschlossene Natur: Auf dem Black River im Süden kann man vom Motorboot aus Krokodile beobachten. „Das Krokodil rettet den Vogel vorm Ertrinken, indem es ihn frisst“, sagt der Bootsführer trocken. Auf dem Martha Brae River im Norden hingegen kann man auf Bambusflößen raften, was nett ist und Freude machen kann aber immer dann ein bisschen absurd wirkt, wenn man rechter Hand die Lastwagen mit den aufgeladenen Flößen die Straße hinaufbrettern sieht.

Oder Wasserfälle: An den Y.S. Falls im Süden der Insel verbringen viele Einheimische und ein paar Touristen ihre Wochenenden mit Tarzan-Spielen mitsamt Eintauchen in unwirklich schön grünlich leuchtende Naturpools. Und während die Kreuzfahrer im Norden die berühmten Dunn’s River Falls erklimmen, vergnügen sich einheimische Schulkinder ein paar Hundert Meter weiter in den sympathischen Little Dunn’s River Falls, die man auch fußgekühlt besteigen kann. Aber zur kleinen Variante, die sogar im Meer mündet, gelangt man ohne Kassenhäuschen durch ein Loch im Zaun, das so groß klafft, dass es offiziell erscheint.

Verliebt in den eigenen Traum

Was das JTB auch gerne herzeigt in diesem vielfältigen Land: die Traumstrände bei Port Antonio im Nordosten, wo sich vor türkis schimmerndem Wasser immer jemand findet, der im weißen Sand erzählt, der Schauspielerin Brooke Shields leibhaftig begegnet zu sein. Oder den Friedhof auf dem Weg zu den Stränden, kurz bevor die Bergstraße bei Annotto Bay in die Küstenstraße fließt: Ein Grabmal ist offenbar von Schloss Neuschwanstein inspiriert. Unweit davon liegt eine Leiche unter einem Betonflugzeug. Daneben ein Totenporträt mit nacktem Oberkörper. Auch das ist Jamaika: sympathisch großspurig. Unterschütterlich verliebt in den eigenen Traum und den der Nächsten.

Auch gerne hergezeigt – das Hauptquartier des Rum-Herstellers Hampden: In der angejahrten Produktionsanlage stinkt es, und davor gibt eine Fremdenführerin Landeskundliches zum Besten. Sätze wie „Kingston ist unsere Hauptstadt“ oder „Jamaika ist ein demokratisches Land, genauso wie die USA.“

Reggae-Tradition von ganz ganz früher wird auch gerne präsentiert: Vor der schwarz lackierten Maschinengewehr-Gitarre von Peter Tosh (1944 – 1987) im gleichnamigen Museum in Kingston schwärmt eine Museumsmitarbeiterin davon, dass der Rasta-Rebell 1986 auf der Bühne einen Joint geraucht hat: „Das war das erste Mal, dass ihm seine Grundrechte nicht vorenthalten wurden!“

Da drängt die Journalistenbetreuerin vom JTB zum Aufbruch. Das passiert öfters, zum Beispiel abends hoch über der Stadt im Dub Club, einer Zeitkapsel, in der zu Roots Reggae aus den 70er und 80er Jahren ältere Männer Marihuana rauchen. Oder im Trenchtown Culture Yard, wo einst der junge Bob Marley den Umgang mit der Gitarre lernte und jetzt zwei Musiker der Retro-Band LivinKulcha euphorisch ihre gerade erst produzierten Songs im Sound der 70er vom Laptop abspielen und dazu Süßliches inhalieren. Man befinde sich gerade in Georgies Raum, sagt einer. Dass mit Georgie der Feuerbeauftragte aus Bob Marleys Welthit „No Woman, No Cry“ gemeint ist, gehört in diesem Teil von Kingston zum Allgemeinwissen.

Seifenproduktion im Schaudorf

Gegen Ende der Reise steht dann ein Besuch bei laut JTB „echten Rastafaris“ auf dem Programm. Deshalb fährt man von der Touristen- und Gewalthochburg Montego Bay ins „Rastafari Indigenous Village“, wo Rasseln verkauft werden, auf denen genau das steht.

Der Dorfsprecher, der sich First Man nennt, sagt zur Begrüßung: „Tourism is Whoreism!“ („Tourismus ist Prostitution“). Niemand raucht einen Joint, solange die Journalisten anwesend sind im Schaudorf mit Schokoladen-, Seifen-, Trommel-, und Marihuana-Produktion, mit Öffnungszeiten und Souvenirshop. „Wir rauchen zu festgelegten Zeiten“, sagt First Man, „grundsätzlich gilt, dass wir immer rauchen.“

Als die Journalisten von den Beaufragten des JTB zum Aufbruch gedrängt werden, zerreiben die Dorfbewohner die Blätter der Cannabis-Stauden schon in ihren Händen. Noch ein Foto mit dem Trommelmacher: First Man weist ihn an, die Tür zur Hütte zu schließen, damit man auf der Außenaufnahme nicht sieht, dass drinnen der Fernseher läuft.

Begegnung mit Christopher Martin, einem Star des Sugar Reggae

Jamaika ist voll von sympathischen Leuten, die mit sich im Reinen zu sein scheinen: Der Reggae-Sänger Christopher Martin (31) kann dabei sehr komisch sein: Während des Gesprächs in Jamaikas Hauptstadt Kingston beginnt er plötzlich, ein Lied aus einer japanischen Cartoon-Fernsehserie vorzusingen. Als Kind sei er Fan gewesen, sagt er, und dass er natürlich kein Japanisch spreche. Er singt nur geschwind mit seiner klaren Schmeichelstimme als Beleg für seine Variante einer beliebten These: „Musik hat keine Sprachgrenze. Und wenn doch, dann reiße ich sie ein.“

Als Grenzeneinreißer hat sich der Sänger vor drei Jahren einen Namen gemacht: Ausgerechnet „Steppin‘ Razor“, den einst für den radikalen Systemkritiker Peter Tosh programmatischen Song von Joe Higgs hat Christopher Martin seinen Vorstellungen gemäß umgedeutet und umgedichtet. Aus einer Hymne der Rasta-Reggae-Revolution hat der sanfte Sänger einen knisternden Flirtsong gemacht: „,Steppin‘ Razor‘ bedeutet für mich jemand, der scharf ist, witzig im Kopf“, erläutert er abends im Hinterhof des Big-Yard-Tonstudios in Kingston, „scharf bedeutet, dass man weiß, was man den Damen sagen muss – und wie man es sagt. Wie man sich selbst attraktiv macht also. Und ich bin scharf.“ Der Mann, der seine sehnsuchtsvollen Liebeslieder „Sugar Reggae“ nennt, tummelt sich im entsprechenden Video inmitten williger Schönheiten, verschenkt Lächeln und Umarmungen, Gangster-Style.

„Ich kann die Motive der Gangster in ein anderes Licht rücken“, erklärt er, „manche benutzen Pistolen, um Leute zu töten, andere benutzen Pistolen, um Leute zu beschützen.“ Wie das auch in Jamaika allzu oft läuft, macht Martin Sorgen: „Immer mehr Pistolen und Kriminalität! Das ist sehr traurig!“ Seine Analyse: „Viele Leute, die Berühmtheit und Reichtum erlangt haben, nutzen das falsch. Statt ihre Gemeinschaften aufzubauen, verstricken sie sich in Machtkämpfe. Die Folge: Feindseligkeit. Es wird jedes Jahr schlimmer!“

Von Süchten, die Krieg auslösen

Dagegen will er friedlich kämpfen, so wie gegen andere Absurditäten des Ruhms: „Wenn du sagst: ,Der Himmel ist rot‘, dann gibt es viele Jasager, die bekunden: ,Ja, Sänger, der Himmel ist rot!‘ Aber das ist ein Witz!“ Er selbst schätze die konstruktive Kritik seines Umfeldes.

Aber manchmal ignoriert er alles: In seinem Fremdgeh-Stück „Cheater Prayer“ sang er 2011 für den Fall, dass er der Versuchung nicht widerstehen könne, die Gebetszeile: „Lass mich nicht erwischt werden“, ein Affront im tief religiösen Jamaika. „Viele Leute hatten ein Problem damit, aber die Diskussionen haben den Song schnell berühmt gemacht“, sagt Christopher Martin, „Gott ist überall, aber das Fleisch ist schwach.“ Seine neue Single „Come back“ handelt von der Sucht. „Die Leute haben eine Menge Süchte, die Krieg auslösen zwischen ihnen und den Leuten, die sie lieben. Das gilt für den Alkoholiker genauso wie für den Unternehmer, der immer mehr Profit machen will.“ Er selbst, sagt Martin, sei süchtig nach seinem Smartphone: „Aber ich will das reduzieren und mehr ein Teil der echten Welt werden.“

Das ist er längst: Viele Jamaikaner verehren ihn dafür, dass er bisher der Einzige ist, der seit 2005 aus dem Gewinn der Castingshow eines Mobilfunkproviders, dem jamaikanischen Äquivalent zu „Deutschland sucht den Superstar“, eine echte Karriere formen konnte: „Vielleicht wollte ich es mehr. Und ich liebe es zu erleben, was meine Musik bei anderen auslösen kann.“ Im Idealfall ist das: Glück.

Spaß mit dem Riddim

Drum rennt Christopher Marin vom Barhocker in den Kontrollraum des Tonstudios, begrüßt den Toningenieur mit einem herzlichen „Wha gwaan engineer?“ (Was geht ab, Ingenieur?) und lässt sich den Riddim vorspielen, die pulsierende Melange aus Bass, Schlagzeug und Computer, die den Tag über erarbeitet worden ist. Martin versinkt über dem Mischpult vor den gigantischen Lautsprechern drei Minuten lang in eine Art Trance, dann geht er in den Aufnahmeraum und haut spontan eine triftige Gesangsmelodie samt fordernder Liebeslyrik heraus, nur so zum Spaß. Ein Vollprofi! Und ein Mann mit Ambitionen: „Ich wünsche mir, dass die Leute außer Bob Marley und Usain Bolt auch Christopher Martin nennen, wenn von Jamaika die Rede ist.“ Auch beim Spaß geht es für ihn ums Ganze: „Wenn du nicht ehrgeizig bist, bist du für den Rest des Lebens besiegt!“  

Hinkommen, Unterkommen, Rumkommen

Anreise

Von Frankfurt fliegt Condor (www.condor.com) direkt nach Montego Bay, ab Köln fliegt Eurowings ebenfalls direkt (www.eurowings.com).

Unterkunft

Im Sandals Resort Montego Bay (www.sandals.com) kostet ein DZ/AI ca. 1000 Euro. Über Reiseveranstalter lassen sich die Zimmer jedoch zum Teil deutlich günstiger buchen (ab ca. 650 Euro für 3 Nächte). Pensionen ab ca. 40 Euro gibt es auch, etwa Mobay Kotch (www.mobaykotch.com). In Kingston bietet das Knutsford Court Hotel DZ/F für ca. 150 Euro. (www.knutsfordcourt.com). Pensionen ab ca. 30 Euro findet man auf zahlreichen Buchungsplattformen im Netz.

Allgemeine Informationen

Deutschsprachige Seite des Jamaica Tourist Boards: www.visitjamaica.com/de/