Wer in diesen Tagen nach Polen fährt, macht bedrückende Erfahrungen: Mit autoritären Methoden baut die neue Regierung das Land systematisch um. Unter den Menschen machen sich Angst und Lähmung breit. Ein Reisebericht der in Berlin lebenden polnischen Schriftstellerin Magdalena Parys.

Stuttgart - Ich steige am Warschauer Hauptbahnhof aus dem Zug und gehe direkt zum Zeitungsladen. Etwas hängt in der Luft, der Geruch ist anders, die Dynamik ist anders und noch etwas, etwas, was ich nicht näher bezeichnen kann. In der Auslage sehe ich Wochenmagazintitel, die ich vorher nie gesehen habe. Auf den ersten Seiten erblickt man die neue Premierministerin und den Staatspräsidenten, zusammengebunden mit einem Seil und mit dem Kommentar: „SIE lassen sie nicht regieren!“ Erst in den Fächern weiter unten finde ich die Zeitungen, die früher weiter oben lagen. Jetzt nicht mehr. Ich fahre ins Hotel, schalte den Fernseher ein und schaue mir die neuen Gesichter an, viele neue Gesichter. Zweitklassige Schauspieler, unbekannte Sportler und Drehbuchautoren äußern sich zu den Veränderungen in Polen. Keine Panik, sagt eine Regisseurin mit gutmütigem Gesichtsausdruck; warum die ganze Aufregung, wundert sich ein Sportler, und ein Schauspieler erklärt, worauf Demokratie beruht.

 

Eine Woche später war die Sendung schon abgesetzt, und Tausende Demon-stranten füllten die Sendezeit privater und öffentlicher Fernsehanstalten. Auf Facebook zusammengetrommelte Teilnehmer riefen auf den Straßen: Demokratie! Offensichtlich hatten sie eine gänzlich andere Vorstellung von Demokratie als der Schauspieler im Fernsehen. Ein Meer von rot-weißen polnischen und blauen EU-Fahnen wogte über den Köpfen polnischer Bürger. Den Begriff der europäischen Gemeinschaft haben sie wohl auch anders aufgefasst als die Regierung. Premierministerin Szydło hatte schon im November die EU-Fahnen aus der Pressekonferenz entfernen lassen und gab bekannt, sie würde von jetzt an nur vor rot-weißen Nationalfahnen auftreten. Zur gleichen Zeit flog Staatspräsident Duda in einem „Red is bad“-T-Shirt nach China: die polnische Marke ist bei Nationalisten und antieuropäischen Fußballultras beliebt. Währenddessen rückte die Bürgerbewegung auf den Straßen unter dem gemeinsamen Nenner KOD (Komitee zur Verteidigung der Demokratie) enger zusammen und schrie erneut: Wir wollen einen richtigen Präsidenten und keine Marionette des Parteivorsitzenden Kaczynski!

Minister im Tarnanzug

Doch jetzt sitze ich noch im Hotel und schau mir alles etwas belustigt und etwas ungläubig an. Ich kam nach Warschau, um mit einer Gruppe Journalisten eine neue Sendung über Bücher zu machen, die es so in Polen noch nicht gegeben hat – schräg und frisch. Ich verspreche mir eisern, mich nicht in die Politik einzumischen. Ich steige ins Taxi und fahre durch Warschau, die moderne europäische Metropole. Im Radio höre ich, dass der Kulturminister vorhat, endlich Ordnung in den öffentlichen Sendeanstalten zu schaffen. Es stellt sich heraus, dass die Journalistin, die wenige Tage zuvor ein Interview mit ihm geführt hat und unbequeme Fragen stellte, soeben vom Dienst suspendiert wurde. Ich steige aus und betrete ein Restaurant. Vom Fernseher winkt mir der neue Verteidigungsminister im Tarnanzug zu, der gleiche, der noch zuvor von der regierenden Partei PiS während des Wahlkampfes versteckt wurde. Man wollte Stimmen sammeln, statt dauernd über den Anschlag auf die Präsidentenmaschine in Smolensk reden zu müssen. Jetzt muss sich der Minister nicht mehr verstecken, er ist wieder da, trägt einen Tarnanzug und winkt uns, mir, den Zuschauern zu. Hallo! Letztens hat er seine Beamten nachts ins Expertenzentrum der Spionageabwehr der Nato in Warschau geschickt. Sie sollten Räume besetzen und Türen aufstemmen. Im Westen und im Osten weiß keiner so recht, wie man das kommentieren soll. Über Spionageabwehr sollte man generell nicht so viel reden, aber manchmal fehlen einem einfach komplett die Worte.

Uns fehlen sie gerade. Ich sitze mit Journalisten an einem Tisch, wir schauen uns an und sprechen es nicht laut aus, aber wir spüren, dass die dynamischen Ereignisse dem Buchmarkt eher nicht zuträglich sind. „Ich bin wie gelähmt“, sagt ein Freund, Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung, und schaut in die Runde. Ich ahne, dass es keine neue schräge Sendung über Bücher geben wird.

Bombendrohung – und die Demo wird aufgelöst

Wenige Wochen sind erst vergangen, aber ich habe das Gefühl, es wäre ein ungarisches Jahr. Das Seil, mit dem der Staatspräsident und die Premierministerin umschlungen waren, muss sich gelockert haben, die Regierung regiert. Sie hat ein neues Gesetz zum Verfassungsgericht verabschiedet, beginnt mit der Abholzung des Naturschutzgebietes Puszcza Białowieska und bildet neue Medien. Der Schatzminister wird gleich die Vorstände des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und des polnischen Rundfunks neu besetzen – ohne Ausschreibung und ohne Amtszeitbeschränkung. Er wird die neuen Vorstände ebenfalls problemlos abberufen können – ohne Gründe dafür zu nennen, denn aus dem bisherigen Gesetz wurde der entsprechende Passus gestrichen, der regelt, wie Vorstände abberufen werden können. Es werden Staatsmedien entstehen. An die kann ich mich noch aus Zeiten der DDR und der Volksrepublik Polen erinnern. Ich weiß nicht, ob ihr es noch wisst, aber zu ertragen waren dort damals nur der „Sandmann“ und Komödien.

Währenddessen werden in Warschau Drohnen verboten, denn Aufnahmen von Zigtausenden Polen, die wieder auf die Straße gehen und protestieren, müssen ja nicht um die Welt gehen. Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie veranstaltet weitere Demonstrationen gegen die Regierung, die jedoch rasch enden, da jemand bei der Polizei anruft und sagt, es gäbe eine Bombe.

Die Regierung will da nicht schlechter dastehen und veranstaltet eine Gegendemonstration mit Regierungsanhängern. Ein Regierungsmarsch für die Regierung, nicht schlecht. Ich stelle mir so was in Deutschland vor. Eine der Lieblingsbeschäftigungen der Anhänger der Regierungspartei PiS sind Pilgermärsche mit Kreuzen und Rosenkränzen zum Hauptsitz der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, um dort Exorzismen durchzuführen und böse Geister zu vertreiben. Neben dem Eingang steht ein großer Bildschirm auf dem die „Gazeta Wyborcza“ Zitate von Bartoszewski, Kuron und Mazowiecki laufen lässt. Der Kreuzzug sieht vor dem Hintergrund des lächelnden Bartoszewski und seines Zitates „Denk dran, es lohnt sich, anständig zu sein!“ überaus komisch aus. An der Fassade haben Journalisten Banner aufgehängt: „Demokratie ohne Zensur!“ und „Meinungsfreiheit“. Anhänger der Regierungspartei wedeln mit Rosenkränzen und Kreuzen und schreien „Schande“. Ich schaue mir die Bilder an, sie erinnern mich an etwas. Mein 15-jähriger Sohn kommt ins Zimmer und fragt, ob das ein Film über die Zeit vor dem Fall der Mauer ist. Und ich höre meinen deutschen Mann kichern, der in Westberlin aufwuchs und totalitäre Staaten nur vom Blick über die Mauer her kannte.

Angst vor der Allmacht des Staats

Bekannte Künstler geben Konzerte für die Demokratie. Es protestieren auch Radiojournalisten und senden jede Stunde die Nationalhymne und die Hymne der EU im ersten Programm des Polnischen Rundfunks. Aus Protest gegen das neue Mediengesetz sind alle bisherigen Vorstände der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zurückgetreten. Der Sprecher der Hauptnachrichtensendung im ersten Programm verabschiedet sich am Ende der Ausgabe mit den Worten „alles Gute“ und „auf Wiedersehen . . . vielleicht“.

Die wenigen Wochen seit dem Regierungswechsel haben auch bei uns zu Hause in Berlin Spuren hinterlassen. Mein Sohn weiß mittlerweile, was das Verfassungsgericht ist. Er liest alles über Polen, weil er sich selbst eine Meinung darüber bilden will. Ich will nicht, dass du mir sagst, was ich denken soll! Einige Tage später singt er lautstark die polnische Nationalhymne vor der polnischen Botschaft in Berlin – zwar mit starkem deutschen Akzent, doch er singt. Er sagt, dass er nach dem Film und dem Buch „Er ist wieder da“ unbedingt mitdemonstrieren muss. Die Jugend sagt, was sie denkt, und dafür sei sie gelobt, doch nach diesen Worten erschaudert es mich. Etwas anders ist es mit alten Leuten. Ich spreche mit einem polnischen Bekannten am Telefon. Plötzlich unterbricht er das Gespräch und sagt: „Nicht am Telefon!“ Ich versteĆhe ihn erst einmal nicht, doch dann fällt mir ein, dass er in der Solidarnoscś war, sich an den Streiks in der Werft in Gdansk beteiligte, er also das, was für mich nur eine verschwommene Erinnerung aus der Kindheit ist oder nur aus dem Film „Das Leben der Anderen“ kenne, ganz direkt erlebt hat. „Ich habe Angst“, sagt er am Ende des Gesprächs, „verstehst du?“ Er hat Angst, abgehört zu werden. Ich noch nicht, aber ich spüre schon den Atem der Geschichte.