Joerg Daiber filmt weltweit touristische Attraktionen und kaum erschlossenes Terrain vom Himmel aus. Seine Miniatur- und Drohnen-Videos der Reihe „Little Big World“ begeistern auf Youtube und bei internationalen Fernsehsendern.

Stuttgart - Auf das Gefühl der Verzweiflung reagieren Menschen unterschiedlich: Manche konsumieren Alkohol, andere besuchen einen Psychologen, einige kaufen neue Schuhe oder Smartphones, wenige ändern ihr Leben von Grund auf. Zu den Hunderten weiteren Möglichkeiten, der Verzweiflung zu begegnen, gehört das Betrachten der Kurzfilme von Joerg Daiber auf Youtube. Weil sie aus der Vogelperspektive das Wuseln der Menschlein im Zeitraffer zeigen, sind sie geeignet, den Weltschmerz des einzelnen Betrachters zumindest kurzfristig zu lindern.

 

Der durch den kreativen Einsatz von Tiefenunschärfe bedingte Miniatureffekt seiner Luftbilder besorgt den Rest: Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, Ankommen und Aufbrechen, Reinhüpfen und Rausklettern, vor allem an populären Urlaubszielen, aber auch auf exotisch unentdecktem Terrain. Willkommen im Bienenstock Erde, der, wiewohl höchst real, oft wie ein Miniaturmodell wirkt und beispielsweise „Magic Mallorca“ oder „Crazy Capri“ heißt, wo Ausflugsschiffe, die Spielzeugbooten gleichen, Touristenmassen so rasant ausspeien, dass einem beim Zuschauen beinahe schlecht wird.

Manchmal wird auch Rasen gemäht: „Wichtiger als die Sehenswürdigkeiten ist für mich, dass ich den Alltag der Leute drin habe – je profaner, desto besser“, sagt Joerg Daiber, der weltweit aktive Miniatur- und Drohnenfilmer. „Wenn man sich eine plakative Botschaft raussuchen wollte, dann wäre das wahrscheinlich die: ,Nehmt euch nicht so wichtig, Leute. Wir sind auch nur so ’n Haufen kleiner Ameisen. Seid mal locker.‘“ Der insektenhaft agierende Mensch, das merkt man in Daibers starken Filmen gleich, ist doch nicht allein. Egal welche der inzwischen rund 100 Folgen der Reihe „Little Big World“ man auch anklickt: Die geometrischen Muster der Massen relativieren den Weltschmerz und die Wichtigkeitsfantasien des Einzelnen.

Stopp in der Wüste

Der Mann, der diese lebensabstrahierenden Kunstwerke konzipiert, filmt, schneidet und vertont, ist das Gegenteil von dem Typus Mensch, den auf Pressereisen alle fürchten. Keiner von denen, dessen Agenda darin besteht, die Journalisten-Gruppe spätestens am ersten Abend von seinem Genie zu überzeugen. Joerg Daiber (50) sitzt im Sudan hinten im Bus, reicht seinen Kollegen Wasser und Kekse nach vorne, verhält sich ruhig, bis sich etwas seiner Ansicht nach Filmenswertes in seinem Blickfeld bewegt. Wenn er ein paar Kamele durch die Wüste trotten sieht, ruft er „Stopp bitte!“.

Wenn er eine Straßenkreuzung im Nirgendwo erspäht, auf der er ein paar Minuten später zwei sich begegnende Lastwagen vermutet, dann wiederholt sich das Ritual. Dann lässt er seine Drohne starten, dirigiert sie mit seinem Smartphone. Und ein paar Monate später kann man sie auf Youtube wie Insekten herumwuseln sehen, die Kamele, die Lkws, die Händler, die Käufer. „Sudan Surprise“ hat Joerg Daiber den vor dem aktuellen Aufstand gegen Omar al-Baschirs Regierung entstandenen Viereinhalb-Minüter genannt, der die Schönheit des Landes mittels rasender Kamele zwischen den Pyramiden von Meroe zeigt und die entspannte Mühsal seiner Bewohner mittels ins Hektische verdichteter Straßenszenen in Khartum. Und dann, schwups, plumpst die Sonne in den Nil, day over, und es beginnt eine sternenglitzernde Nacht in der Wüste und ein neuer Tag.

Auch die Zeit dazwischen verbringt Joerg Daiber, der in Biberach aufgewachsen ist, aber seine Filmproduktions-Firma spoonfilm längst von Berlin aus betreibt, oft mit Arbeit. Zwar reist er rund drei Monate pro Jahr mit seinen Drohnen und anderen Kameras in der Welt herum, „aber es ist nicht so, dass ich den feuchten Traum eines Backpackers lebe. Es ist echt anders.“ Obwohl er Sonnenuntergänge so gerne filmt wie die morgendliche Wiederkehr des Feuerballs, sitzt er beispielsweise irgendwo auf dem Balkan bis zwei Uhr nachts am Computer. Und falls er in einer obskuren Unterkunft sein Laptop auf einem Bett parken muss, das neben einem Klo steht, welches seit Jahren nicht mehr geputzt wurde – dann murrt er auch nicht.

Ein Teil des Elends

So schreibt er E-Mails, schneidet Filme oder plant die nächste Reise, auf der er unter Umständen wieder Leuten begegnen wird, die Rasen mähen, der anschließend nachwächst: „Irgendwie ist es auch Quatsch, was die Leute so machen.“ Er selbst schließt sich davon, gerade in Osteuropa, keinesfalls aus: „Ich bin auch Teil des Elends, indem ich solche Filme mache. Dann reisen noch mehr Leute hin. Und schließlich stehen an jeder Ecke Magnetverkäufer.“

Auf die Weltbetrachtung mit Miniatureffekt (von Insidern Tilt Shift genannt) und Zeitraffer (Time Lapse) ist er gekommen, als er online die ersten derartigen Filme sah: „Das fand ich faszinierend.“ Seine ersten Bilder mit diesen optischen Tricks drehte er vor acht Jahren während einer Thailand-Reise. Dann wurden seine ersten Miniaturfilme für die Vimeo-Awards in New York nominiert, und bald häuften sich die Lizenzanfragen von Fernsehsendern aus Brasilien, Russland, Finnland, zuweilen auch aus Deutschland. Derzeit bereitet er eine Dokumentation für Arte vor. Und immer öfter bitten ihn die Städte selbst um Filme. In Wien durfte er seine Drohne trotzdem nicht über Schloss Schönbrunn fliegen lassen, weil es zu kompliziert gewesen wäre, die Genehmigung zu bekommen. „Nach Brüssel, wo wegen der EU kaum geflogen werden darf, habe ich sie gar nicht erst mitgenommen.“

Manchmal wartet er also mit einer Kamera auf einem Hausdach, bis unten jemand anfängt, ein Auto zu waschen oder den Rasen zu mähen: „Vieles, was Leute so machen, ist objektiv sinnlos.“