Bei der Weltmeisterschaft im dänischen Herning drohen der „Dressurkönigin“ und der deutschen Equipe gleich mehrere Niederlagen. Das ist ungewohnt, doch mit ihrem Hengst Quantaz hat Werth kaum Chancen, in die Medaillenvergabe einzugreifen.

Diese Sportbilanz sucht ihresgleichen. 14 deutsche Meistertitel, 21 Medaillen bei Europameisterschaften. Zwölf olympische Medaillen, davon siebenmal Gold, dazu vier Einzel- und fünf Mannschaftssiege bei Weltmeisterschaften. Nicht zu vergessen die rund 200 wichtigen Einzelerfolge, beispielsweise 15 beim German Masters in der Schleyerhalle oder 14 in der Aachener Soers. Sehr wahrscheinlich bleibt Isabell Werth für immer und ewig die mit Abstand erfolgreichste Reiterin des modernen Pferdesports. Seit 1989 zählt sie zur Weltelite – über das mögliche Ende ihrer Karriere im Sattel macht die 53-Jährige nur vage Andeutungen: „2024 in Paris möchte ich aktiv dabei sein.“

 

Konkurrenz aus dem eigenen Stall

Aber leicht wird das für „Bella“, wie ihre Freunde sie nennen, nicht werden. Seit einiger Zeit schon machen ihr junge Frauen den höchsten Rang im Olymp des Dressurreitens streitig. Da ist zunächst Jessica von Bredow-Werndl, ihre einstige Schülerin, die vor einem Jahr in Tokio das Einzelgold holte. Ihre Trakehner Stute Dalera ist momentan das beste Dressurpferd der Welt. Allerdings wird die Olympiasiegerin bei der WM nicht starten – Bredow-Werndl erwartet Mitte August ihr zweites Kind.

Bei dieser Dressur-WM, die Ende der Woche in Herning beginnt, heißt die Topfavoritin auf den WM-Titel anno 2022 trotzdem nicht Isabell Werth, sondern Cathrine Dufour. Die 30-jährige Dänin sattelte zuletzt in der Aachener Soers zwei Pferde in fünf Wettbewerben – sie siegte fünfmal. Ihr Toppferd heißt Vamos Amigos, ist zwölf Jahre alt, ein Hengst aus der westfälischen Zucht. Im Fußballstadion der Sportstadt Herning erwartet Cathrine ein Heimspiel – und das nicht nur in den zwei Einzelkonkurrenzen, sondern auch mit ihrer Mannschaft.

Monica Theodorescu, die Bundestrainerin, nimmt’s anscheinend gelassen: „Andere sollen auch mal eine Chance bekommen, das ist doch nicht so schlimm.“ Dabei fehlt der 59-Jährigen, die seit 2012 Bundestrainerin ist, nicht nur Jessica von Bredow-Werndl, sondern auch die erfahrene Dorothee Schneider aus der Pfalz, deren Spitzenpferd Showtime gegenwärtig kränkelt.

Mehrere Pferde für den Sport verloren

Also spricht nach der aktuellen Papierform vieles dafür, dass die deutschen Dressurstars nach 22 WM-Siegen seit 1966, davon zwölf mit dem Team, diesmal mit Silber vorliebnehmen müssen – oder gar mit Bronze. Denn Isabell Werth, 2018 bei der WM in Tryon/USA noch Titelträgerin in der klassischen Tour und mit dem Team, ist bei ihrer fünften WM nicht mehr so gut beritten wie in der Vergangenheit. Dabei hat ihre Freundin und Mäzenin Madeleine Winter-Schulze in den vergangenen 20 Jahren eine Millionensumme ausgegeben, um Pferde zu kaufen oder zu leasen. Doch binnen relativ kurzer Zeit musste Werth ihre beiden besten Pferde aus dem Sport verabschieden: die dunkelbraune Stute Weihegold im Frühjahr in Leipzig, die Fuchsstute Bella Rose erst kürzlich in Aachen. Am vergangenen Sonntag starb ihr Erfolgspferd Satchmo mit 28 Jahren.

Die „Blutregel“ bringt das Aus

Der zwölfjährige bayerische Hengst Quantaz sollte für seine Reiterin einen nahtlosen Übergang schaffen – daraus wurde zu ihrem Leidwesen nichts, denn der Dunkelbraune ist kein Überflieger. Als der Hengst in der Aachener Soers patzte, räumte Isabell Werth selbstkritisch ein: „Ich hab’ wohl zu Hause nicht genügend trainiert.“

Der vorläufige Tiefpunkt für die beiden kam unverhofft in der Soers: Im Grand Prix Spezial für die klassische Tour klingelte die dänische Chefrichterin plötzlich mit der Glocke – das Aus für Isabell Werth. Was war passiert? Der Hengst hatte sich wohl im Eifer des Gefechts auf die Zunge gebissen – am Maul des Pferdes wurde ein Hauch von Blut sichtbar. Doch das genügt, die sogenannte Blood Rule ist eindeutig: Blutet ein Pferd auch nur leicht, ob durch den Sporen oder das Gebiss im Maul, ist die Disqualifikation unausweichlich. Werth und ihre Fans waren schockiert, sie haderte: „Mir ist das noch nie passiert, heute zum ersten Mal, ausgerechnet hier in Aachen.“

Im Fokus: die Qualifikation für Olympia

Wie man es auch dreht und wendet. Ein Aus aufgrund der strikten „Blutregel“ gilt als peinlich und kostet Prestige, gerade wenn es sich um Stars wie Isabell Werth handelt. Die rein fachliche Frage lautet jetzt: Kann das erneut passieren, etwa am kommenden Wochenende, wenn es in Herning um den WM-Titel 2022 geht? Und die zweite Frage: Hat das neu formierte Team mit den Debütanten Ingrid Klimke, Benjamin Werndl und Frederic Wandres die Nerven, bei den favorisierten Dänen über sich hinauszuwachsen?

Wichtig zu wissen: Bei einer WM im Reitsport sind Titel und Medaillen im Tagesgeschäft das Eine. Mit Blick auf die Zukunft ist es in diesem Fall aber weitaus wichtiger, mit dem Team unter die besten fünf zu kommen, denn diese Mannschaften qualifizieren sich automatisch für die nächsten olympischen Spiele, also 2024 in Paris. Sollte das schief gehen, bliebe nur noch die Dressur-EM 2023 auf der Anlage von Ludger Beerbaum in Riesenbeck. Bundestrainerin Theodorescu gibt sich zuversichtlich: „Isabell mit ihrer Erfahrung ist für uns eine Bank.“

Die Reit-WM in Herning

Deutsches Team
Bei dieser 15. Dressur-WM reiten für Deutschland: Isabell Werth (53) mit Quantaz, Ingrid Klimke (54) mit Franziskus, Frederic Wandres (35) mit Duke of Britain und Benjamin Werndl (38) mit Famoso.

Favoriten
Die Dänin Cathrine Dufour und ihr Hengst Vamos Amigos dominieren die Dressur seit Monaten, sie könnten bei der WM dreimal Gold holen – sowohl im Team mit Carina Krüth, Daniel Bachmann Andersen und Nanna Merrald, als auch in der Klassischen Tour und in der Kür.

Zeitplan
Am kommenden Samstag und Sonntag (jeweils von 11 Uhr an) steht in Herning die Mannschafts-WM auf dem Programm, am Montag folgen der Grand Prix Spezial und am Mittwoch die Kür. Gemeldet sind 95 Aktive aus 34 Nationen.