Für die Christen im Irak ist die Welt zusammengebrochen. Sie werden getötet, gequält oder vertrieben. Einige hoffen noch, dass die Dschihadisten schnell wieder vertrieben werden. Andere setzen darauf, in ein christliches Land auswandern zu können.

Erbil - Sie kamen frühmorgens. Die islamistischen Terroristen marschierten durch die Straßen und forderten mit Lautsprechern alle Christen auf, die Stadt zu verlassen oder zu konvertieren. Wer sich weigere, werde umgebracht. Vier Wochen ist das nun her, dass Karakosch, die einst größte christliche Stadt im Irak, von Kämpfern der extremistischen Gruppierung Islamischer Staat (IS) überfallen wurde. Mit ihren schwarzen Flaggen, meist vermummt und bewaffnet kamen sie über die rund 40 000 Christen. An die Häuser der Einwohner schmierten sie mit roter Farbe den Buchstaben „N“ für „Nasrani“, Christ. Da beschloss Karam Amer mit seiner Familie zu fliehen. „Es war nur noch eine Frage von Stunden, bis die Islamisten uns ermordet hätten“, sagt er und macht eine Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle andeutet.

 

Der 31-jährige Geograf sitzt unter einer Plastikplane in dem Garten der St.-Joseph-Kirche in Ainkawa, dem christlichen Viertel in Erbil in der autonomen Kurdenregion des Nordirak. Seine Ehefrau und die zwei gemeinsamen Söhne liegen in einer Ecke. Sie sprechen nicht, spielen nicht, lachen nicht, schauen einfach vor sich hin. Der Schrecken hat sie stumpf gemacht. Vor dem chaldäisch-katholischen Gotteshaus, ein ockergelber Backsteinbau, schieben Peschmerga Wache. Die kurdischen Kämpfer, mit Maschinenpistolen an der Schulter hängend, in Camouflage-Uniformen und dicken Stiefeln, stehen in der brütenden Hitze. Über 40 Grad zeigt das Thermometer an. Jeder, der auf das Gelände will, wird genauestens inspiziert.

Sie schlafen, wo sie Schatten finden. Foto: Misereor

Seitdem die IS-Dschihadisten das Land mit Terror überziehen, ist die St.-Joseph-Kirche zu einem Zufluchtsort für etwa 700 Christen geworden. Es ist Freitag frühmorgens, vor wenigen Stunden ist der Ministerpräsident Nuri al-Maliki in Bagdad zurückgetreten. „Endlich! Der ist doch mitverantwortlich für den Bürgerkrieg hier. Der hat sich nie um uns gekümmert“, kommentiert Karam Malikis Verzicht auf seine Macht. Aber die politische Situation wird seine Not so schnell nicht lindern.

Vor wenigen Wochen hatte er noch ein Zuhause, einen Job, einen Alltag – jetzt existiert all das nicht mehr. Er trägt Sandalen und ein schmutziges Hemd, die Hose hat Löcher. Seine Augen sind trocken und leer. Die Familie besitzt nur noch das, was sie am Körper tragen – ihr Hab und Gut wurde auf der Flucht an den Checkpoints der Dschihadisten geraubt. „Sogar mein goldenes Kreuz haben mir die Islamisten weggenommen“, erzählt Karam. Er muss seine Tränen unterdrücken.

Die Luft riecht nach Staub, überall liegen Matratzen herum, überall sitzen oder liegen Menschen unter Planen oder in Zelten, überall ist ein Gewirr aus Stimmen zu hören. Es mangelt an allem: Der Strom fällt regelmäßig aus, Wasser, Essen und Medikamente sind knapp, es gibt zwei Toiletten und eine provisorische Dusche. Trotzdem ist es auffällig sauber hier. Wegen der Hitze und der Krankheitsgefahr wird besonders auf die Hygiene geachtet. In ganz Ainkawa sollen etwa 20 000 Flüchtlinge leben, manche sagen, es seien 70 000 – so genau weiß das niemand, denn einen Überblick hat hier schon lange keiner mehr.

Christliche Häuser markiert die IS mit Zeichen für sich. Foto: EPA

Jeden Tag stolpern Hunderte Flüchtlinge über die Stadtgrenzen. Manche schaffen es mit wunden Füßen, manche kommen mit dem Auto, sie alle sind traumatisiert. Diejenigen, die es bis nach Ainkawa geschafft haben, leben meist auf den Kirchengeländen. Auf den Straßen schreien Kinder, sitzen apathische alte Männer und Frauen, manche beten, andere weinen. Pick-ups mit viel zu vielen Menschen auf der Ladefläche fahren durch Ainkawa auf der Suche nach einer paar Quadratmetern, auf denen man ein neues Leben beginnen muss.

Wer nichts mehr gefunden hat, schläft in den Parks oder einfach mitten auf der Straße im Dreck. „Eines Nachts kreisten Hunde um meine schlafenden Kinder“, erzählt ein verzweifelter Vater, der ebenfalls mit seiner Familie aus Karakosch geflohen ist und nun versucht, in einem Park zu überleben. „Was wäre passiert, wenn ich nicht rechtzeitig aufgewacht wäre?“, fragt er panisch. Er steht unter Schock, fassungslos darüber, wie all das geschehen konnte. Um ihn herum sitzen, hocken, stehen Hunderte andere Flüchtlinge, sie wissen nicht, wohin mit sich. Unter jedem Baum liegen, an jedem Stein lehnen Menschen.

Angesichts der menschlichen Krise im Norden des Irak haben die Vereinten Nationen am Donnerstag die höchste Alarmstufe für das Land ausgerufen. Die meisten christlichen Flüchtlinge kommen aus dem Südirak, aus Basra, Bagdad oder Mosul. Sie sind in die autonome Region Kurdistan geflohen, weil die Kurden sie als Einzige in diesem Bürgerkrieg beschützen. Massud Barsani, Präsident der kurdischen Minderheit im Irak, hat versprochen: „Die Peschmerga, die kurdische Regionalgarde, verteidigt auch die Christen. Wir sorgen dafür, dass in Kurdistan die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Religionen friedlich zusammenleben können.“

Die UN haben die höchste Alarmstufe ausgespochen. Foto: EPA

Und das ist bitter nötig, denn die Terrorgruppe IS will alle Spuren christlicher Existenz vernichten, sie sehen den sunnitischen Islam als einzig wahre Religion an. In Mosul brannten die Islamisten die Residenz des syrisch-katholischen Bischofs nieder. Flüchtlinge erzählen, die Islamisten hätten viele Gebetshäuser zerstört, Klöster unter ihre Kontrolle gebracht und Mönche ermordet. Der chaldäische Patriarch Louis Raphael Sako, Vorsitzender der irakischen Bischofskonferenz, appellierte an die UN und an die EU, den Menschen zur Hilfe zu eilen, denn im Land der Bibel werden Christen systematisch vertrieben, gejagt, ermordet.

Der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi verkündete vor Kurzem, dass Christen, die sich nicht zum Islam bekennen oder eine Sondersteuer bezahlen, ermordet werden. Der selbst ernannte Kalif hat sich im Juli erstmals in einem online verbreiteten Video öffentlich gezeigt. Gekleidet in schwarzem Gewand und mit schwarzem Turban forderte Baghdadi alle Muslime zum „Gehorsam“ und „Heiligen Krieg“ auf. Er befahl seinen Anhängern: „Gehorcht mir so, wie ihr in eurem Inneren Gott gehorcht.“

„Warum hat uns niemand geholfen?“

In der St.-Joseph-Kirche findet die Mittagsmesse statt. Ventilatoren macht die Hitze erträglicher. Es riecht nach Weihrauch. Die Gemeinde singt und betet für den Frieden. Draußen scheint die Sonne jetzt unbarmherzig auf den Platz, im Innenhof stehen die Menschen in der Gluthitze für Wasser und Nahrungsmittel an. Karam bleibt unter der Plane sitzen, er hat keine Kraft mehr, um zu beten. „Sieht Gott all das Leid nicht?“, fragt er. Seine Frau schimpft, er solle den Allmächtigen nicht infrage stellen. Sie geht zur Messe, während er auf die Söhne aufpasst. Sein Leben hat nun keinen Rhythmus mehr. Es bleibt ihm nichts übrig, als im Flüchtlingscamp auf den nächsten Morgen zu warten. Er hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

„Warum hat uns niemand geholfen?“, fragt er immer wieder. „Seit Jahren leben wir Christen in Angst, die ganze Welt wusste davon. Trotzdem hat uns niemand geholfen.“ Dann macht er wieder die Handbewegung, mit der er das Durchschneiden seiner Kehle nachahmt. „Diese Barbaren wollen uns töten, und niemand interessiert sich dafür.“ Ein Leben im Irak kann er sich nicht mehr vorstellen. „Nie wieder möchte ich mit Arabern Tür an Tür wohnen.“

Der Priester rät den Gläubigen zur Emigration

Vor fast zwei Jahrtausenden wurden die ersten christlichen Gemeinden im damaligen Mesopotamien gegründet. Im Irak liegen mit die tiefsten Wurzeln des Christentums. Jetzt werden diese Wurzeln wohl endgültig ausgerissen. Auch wenn es unglaublich klingt, aber unter dem Diktator Saddam Hussein lebten Christen weitgehend unbehelligt. Diese Minderheit wurde sogar gefördert, weil sich das Regime ihre Unterstützung sichern wollte. Erst nach der US-Invasion 2003 änderte sich die Sicherheitslage. Seitdem praktizierten Christen ihren Glauben im permanenten Ausnahmezustand, und immer hinter dicken Mauern. Kirchen gingen in Flammen auf, Gläubige wurden attackiert, Geistliche entführt und ermordet. Wer genügend Geld hatte, verließ das Zweistromland. Vor zehn Jahren sollen rund 1,3 Millionen Christen im Irak gelebt haben. Mittlerweile sind es Schätzungen zufolge nur noch 400 000. Aus Angst vor den Islamisten flohen die meisten jetzt in den Norden des gespaltenen Landes.

1500 Kilometer lang ist die Grenze zwischen den Kurdengebieten und dem Reich der Dschihadisten, größtenteils menschenleer und schwer zu kontrollieren. Wie lange die Peschmerga mit ihren alten Waffen die Terroristen, die mit modernster Ausrüstung aus erbeuteten US-Beständen kämpfen, aufhalten können, ist nicht sicher. In Erbil sind Flugblätter der IS aufgetaucht mit dem Text: „Erbil, wir kommen.“ Eine Drohung, die der Erzbischof von Erbil, Bashar Warda, sehr ernst nimmt. Er steht in seiner Soutane am Eingang der St.-Joseph-Kirche. Kinder rennen im Staub um ihn herum. „Wir sind voller Angst, wir sind verzweifelt. Wir brauchen Hilfe“, sagt Warda. Es sei schwierig, den Menschen Hoffnung zu machen, denn wann der Bürgerkrieg vorbei sei, wisse keiner. „Immer mehr Christen werden dieses Land verlassen, und dass ist sehr schlimm.“ Dann sagt er für einen Geistlichen etwas Bemerkenswertes: „Der Westen sollte militärisch eingreifen, sonst überleben wir das hier nicht.“

Eine andere Kirche, wieder in Ainkawa: auch in der assyrisch-katholischen Kirche leben Hunderte Gestrandete im Garten, auf den Büschen liegt die Wäsche zum Trocknen. In einem Wohncontainer sitzt Pfarrer Pius Affas und hilft bei der Registrierung neuer Flüchtlinge. Der kleine Container ist voller Menschen, Papiere stapeln sich auf dem Tisch, es geht hektisch zu, denn die Urkunden sind begehrt. Wer eine kirchliche Registrierung besitzt, hat größere Chancen, im Ausland als politischer Flüchtling anerkannt zu werden. Herr Pfarrer, sollen die Christen weiterhin im Irak ausharren, oder sollen sie ins Ausland fliehen? „Ich würde niemandem raten, hierzubleiben“, sagt er hastig und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Papst Benedikt XVI. rief während seiner Libanon-Reise 2012 die bedrängten Christen in der Region zum Bleiben auf. Pfarrer Pius Affas hält ganz kurz inne, schaut nach oben, hebt die Hände in Richtung Himmel. „Die Situation hat sich gewaltig geändert. Für uns Christen gibt es hier in unserer alten Heimat keine Zukunft mehr.“