Backnang hat wieder eine Anlaufstelle für kranke Kinder – mit bunten Wänden, neuen Strukturen und einem klaren politischen Signal. Doch die Herausforderungen bleiben bestehen.

Rems-Murr : Frank Rodenhausen (fro)

Als Marina Stepanyan am 1. Oktober zum ersten Mal die neue Praxis betrat, war es mehr als ein Arbeitsbeginn. Es war ein Aufbruch. Für die erfahrene Kinderärztin ebenso wie für die Stadt Backnang (Rems-Murr-Kreis), über welcher der drohende Verlust eines kinderärztlichen Kassensitzes wochenlang wie ein Damoklesschwert hing. Am Donnerstag ist das neue Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) für Kinder- und Jugendmedizin im Gesundheitszentrum Backnang offiziell eröffnet worden.

 

„Wunderbar ist das alles geworden“, sagt der Landrat Richard Sigel, der das Projekt von Anfang an begleitet hat. Die Räume, in der zuletzt die ärztliche Notfallpraxis untergebracht war, wurden binnen drei Sommermonaten komplett umgebaut. Mit bunten Tiermotiven, offener Empfangszone und thematisch gestalteten Behandlungszimmern. Wald, Wasser, Berge, Wolken: Kinder sollen sich hier nicht nur medizinisch gut betreut, sondern auch geborgen fühlen.

MVZ Backnang: Modell gegenden Kinderärztemangel

Der Weg dahin war kein leichter. Als Sabina Delic-Bikic, die langjährige Kinderärztin in Backnang, ihre Praxis zum 30. Juli schloss, drohte der Region ein akuter Versorgungsengpass. Rund 3000 Kinder standen ohne Ansprechpartner da, die bestehenden Praxen im Umland waren längst an der Belastungsgrenze. Besonders brisant: Da die Raumschaft laut der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) als „überversorgt“ gilt, drohte nicht nur die Schließung, sondern auch der unwiederbringliche Verlust des Kassensitzes.

Das MVZ ist im Untergeschoss des Gesundheitszentrums in den Räumen der früheren Notfallpraxis untergebracht. Foto: Gottfried Stoppel

„Das wäre eine Katastrophe gewesen“, sagen Landrat Sigel und Backnangs Oberbürgermeister Maximilian Friedrich unisono. Friedrich verweist auf die veraltete Bedarfsplanung aus den 1990er Jahren. Diese entspreche nicht mehr den heutigen Realitäten. Backnang sei Mittelzentrum für rund 120.000 Menschen. Die ärztliche Versorgung, speziell jene von Kindern, hinke jedoch hinterher.

Kassensitz in Gefahr: Landkreis reagiert auf drohende Lücke

Dass der Rems-Murr-Kreis gemeinsam mit seinen Kliniken das MVZ aufbaute, war ein Schritt aus der Not – und ein politisches Signal. „Wir sind eigentlich nicht zuständig für die ambulante Versorgung“, sagt Sigel, der auch Aufsichtsratsvorsitzender der Rems-Murr-Kliniken ist. „Aber wenn sonst niemand handelt, bleibt uns nichts anderes übrig.“ Die KV hatte – trotz mehrfacher Appelle – keine Lösung präsentiert, sondern auf abstrakte Zahlen verwiesen.

Entstanden ist nun ein Modell, das andernorts Schule machen könnte. Für die Rems-Murr-Kliniken ist das Kinder-MVZ bereits das dritte seiner Art, neben Standorten für Frauenheilkunde in Winnenden und Orthopädie in Backnang. Aber das erste, das eine Lücke in der Basisversorgung schließt. „Wir wollen ambulante und stationäre Versorgung besser verzahnen“, erklärt der Klinik-Geschäftsführer André Mertel. Für die Kinder- und Jugendmedizin bedeutet das: enge Kooperation mit der Kinderklinik am Klinikum Winnenden unter Leitung von Professor Ralf Rauch.

„Eine Praxis ist heute nicht mehr familienkompatibel“

Mit Marina Stepanyan konnte eine erfahrene Kinderärztin gewonnen werden, die von Fellbach nach Backnang wechselte – nicht nur beruflich, sondern auch privat mit ihrer Familie. Unterstützt wird sie ab November von Dr. Veronika Seethaler, die in Teilzeit einsteigt. Warum keine der beiden Frauen die Praxis in Eigenregie übernimmt? „Als Mutter kleiner Kinder ist das schwierig“, sagt Stepanyan. Seethaler ergänzt: „Ich kenne das aus meiner eigenen Familie – meine Eltern waren beide Ärzte. Ich weiß, was das für ein Privatleben bedeutet.“

Die klassische Einzelpraxis – einst Standardmodell ärztlicher Versorgung – verliert damit weiter an Boden. Für Chefarzt Rauch ist das keine Überraschung, sondern „ein Strukturwandel, der sich seit Jahren abzeichnet“. Das MVZ-Modell biete hier eine Alternative, in der sich Mediziner auf ihre Arbeit konzentrieren könnten – ohne wirtschaftliches Risiko, ohne Verwaltungslast.

„Ort des Vertrauens“: MVZ Backnang begeistert online und vor Ort

Getragen wird das neue Zentrum auch von der Stadt und ihrer Zivilgesellschaft. Die Bürgerstiftung Backnang spendete Spielzeug im Wert von 1500 Euro für den Wartebereich, Oberbürgermeister Friedrich spricht von einem „Ort des Vertrauens“. Dass das MVZ nicht nur reibungslos startete, sondern von Beginn an stark nachgefragt ist, zeigen auch die Reaktionen im Netz: Eine Instagram-Ankündigung generierte zehntausende Aufrufe.

So erfolgreich die Eröffnung verlief – sie kann die strukturellen Probleme nicht lösen. Die ärztliche Versorgung im Rems-Murr-Kreis steht teilweise auf wackligen Beinen. Die KV rechnet auf Kreisebene, nicht nach tatsächlichen Einzugsgebieten. Die Notfallpraxis in Backnang ist geschlossen, auch in Schorndorf wurde sie 2023 dicht gemacht. Die Folge: überfüllte Notaufnahmen in den Kliniken in Winnenden und Schorndorf, steigende Fallzahlen, überlastetes Personal.

„Was wir brauchen, ist eine Neubewertung der Bedarfsplanung und eine nachhaltige Finanzierung der MVZ-Strukturen“, fordert Richard Sigel. Der Kreis habe Verantwortung übernommen – jetzt sei Berlin gefragt. Gemeinsam mit den Bundestagsabgeordneten Inge Gräßle und Christina Stumpp wurde ein Schreiben an Gesundheitsministerin Nina Warken verfasst. Ziel: Modellregion für moderne Versorgungsformen zu werden. Doch bisher fehlt die Rückmeldung.

Erfolg und Mahnung: Kinder-MVZBacknang fordert Handeln

Das neue Kinder-MVZ in Backnang ist eine Erfolgsgeschichte, aber auch eine Mahnung. Eine Mahnung an die Politik, an Verbände, an Verantwortliche, das Gesundheitswesen an die gesellschaftliche Realität anzupassen. Kinder werden krank – ob mit oder ohne Kassensitz. Wer den Versorgungsauftrag ernst nimmt, muss handeln.

Ob Backnang damit ein Zukunftsmodell etabliert oder nur kurzfristig eine Lücke schließt, wird sich zeigen. Für den Moment jedoch ist klar: Die Familien in Backnang atmen auf. Und eine Ärztin, die mit Herz und Verstand angetreten ist, hat einen Platz gefunden, an dem beides zählt.